Wilma Aden-Grossmann: Von Viel- und Weniglesern

 

Angesichts der rasanten Entwicklung, die die neuen Medien genommen haben, stellt sich die Frage, ob sich das älteste Medium für Kinder, das Kinderbuch, noch behaupten kann und welche Bedeutung ihm heute zukommt.

Gerade im Zeitalter moderner Medien ist die Lesefähigkeit die entscheidende Voraussetzung dafür, an der Informationsgesellschaft teilzuhaben. Prof. Ring, Geschäftsführer der Stiftung Lesen, sagte, dass das Lesen das „Betriebssystem für die neuen Medien“ sei. Zwar lernen Kinder in der Schule die Techniken des Lesens, aber ob sie dann auch zu Viellesern, zu kompetenten Lesern werden, hängt stark davon ab, ob sie auch außerhalb der Schule in ihrer Freizeit zum Buch greifen. Hier hat die Familie, die das Lesen unterstützt, viel zur Entwicklung der Lesekultur beigetragen.

Verschiedenen Untersuchungen u.a. von Bettina Hurrelmann haben nachgewiesen, dass für die Entwicklung der späteren Lesekompetenz und Lesemotivation der Bilderbuchbetrachtung als Vorstufe zum Lesen eine hohe Bedeutung beizumessen ist. Unbestritten ist auch, dass die Betrachtung von Bilderbüchern die Sprachkompetenz des Kindes fördert, vor allem dann, wenn Erwachsene gemeinsam mit dem Kind das Bilderbuch betrachten.

Hier einige Stichworte zu Entwicklung der Sprachkompetenz: Ein 3jähriges Kind verfügt über einen Wortschatz von etwa 1000 bis 1200 Wörtern und lernt bis zum Schuleintritt etwa 500 bis 600 weitere Wörter. Mit etwa 4 Jahren hat das Kind die grundlegenden generativen Regeln der Grammatik sich angeeignet.

Das Bilderbuch fördert diese Sprachentwicklung, denn es bietet Anlässe zum spontanen Sprechen. Das beginnt mit dem Benennen der abgebildeten Gegenstände im Kleinkindalter. Vorschulkinder und Kinder im Grundschulalter werden durch das Betrachten von Szenenbilderbüchern dazu angeregt, komplexe Geschichten oder eigene Erlebnisse zu erzählen. Aber nicht nur die Sprachentwicklung wird durch Bilderbücher gefördert, sondern auch die emotionale Entwicklung. Das Kind lernt, Stimmungen und Gefühle wahrzunehmen, es erkennt, dass dunkle düstere Farben Angst, Spannung oder Bedrohung ausdrücken, wohingegen helle, kräftige Farben Freude und Entspannung darstellen.

Die Bedeutung des Kinderbuchs für die kindliche Entwicklung ist also unter Fachleuten und Wissenschaftlern unbestritten. Auch die Produktion von Kinderbüchern ist unverändert hoch. 1998 gab es in Deutschland ca. 4800 Neuerscheinungen, und damit hat das Kinder- und Jugendbuch einen Anteil von etwa zehn Prozent der Neuerscheinungen insgesamt. (hierbei wurden Wiederauflagen nicht gerechnet.) Nehmen wir noch hinzu, dass ein Kinderbuch, nämlich „Harry Potter“ derzeit auf den Bestsellerlisten sowohl der Kinderliteratur also auch der allgemeinen Belletristik ist, so gewinnt man den Eindruck, dass man sich wohl um den Fortbestand der Kinder- und Jugendliteratur und damit auch um die Entwicklung der Lesekompetenz nicht sorgen muss. Betrachten wir aber die Ergebnisse der 2001 vorgestellten Studie zum Leseverhalten der Deutschen, so ergibt sich ein anderes Bild.

Folgende Ergebnisse wurden genannt:

  • der Anteil der Personen, die täglich ein Buch in die Hand nehmen, reduzierte sich gegenüber 1992 von 16 auf 6 %;

  • 28 % der Befragten sehen sich selbst als Vielleser, aber

  • fast die Hälfte der Befragten bezeichnen sich als Kaum- oder Wenigleser.

  • der Anteil der Jugendlichen unter 19 Jahren, die nur noch flüchtig Texte lesen, erhöhte sich von ca. 10 % auf mehr als 30%

  • Die Bedeutung der Familie für die Leseerziehung ist seit Jahren rückläufig, so dass heute viele Kinder in den Kindergarten kommen, die noch nie ein Bilderbuch in der Hand hatten.

Als Fazit der Untersuchung erklärte Prof. Dr. Ring, Geschäftsführer der Stiftung Lesen, dass ein großer Teil der Deutschen auf das Informationszeitalter nicht genügend vorbereitet sei, denn Lesefähigkeit und eine ausgeprägte Lesepraxis seien unabdingbare Voraussetzungen für die multimedial geprägte Gesellschaft. Zwar vermittelt die Schule die grundlegenden Fähigkeiten zum Lesen, aber es bedarf des zusätzlichen Lesens in der Freizeit, damit ein Kind zu einem kompetenten Leser wird. Da die Familie, die traditionell viel zur Leseförderung getan hat, sich aus der Leseerziehung tendenziell zurückzieht, müssen die Schule und vor allem sozialpädagogische Einrichtungen und Angebote sich dieser Aufgabe verstärkt zuwenden. Es sind insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Schichten, die zu den Kaum- und Wenigleser gehören, deren Berufs- und Lebenschancen damit beeinträchtigt und deren Lesefähigkeit – vor allem nach Beendigung der Schulpflicht – stark zurückgeht. Die Leseförderung ist folglich eine wichtige Aufgabe für die Sozialpädagogik in der vor- und außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit.

Aus: Kindheit – Jugend-Medien , Universität Kassel, Fb Sozialwesen, 2001 Heft 4, S. 27-30

kjm