Wilma Aden-Grossmann: Selbstregulierung als Prinzip der antiautoritären Erziehung. Gastvortrag am 14. Juli 2009 Universität Münster, Fb Erziehungswissenschaft

Ich möchte das Thema „Selbstregulierung als Prinzip der antiautoritären Erziehung“ am Beispiel der Frankfurter Kinderschule, den ersten antiautoritären Kindergarten, darstellen, 

Mein Vortrag gliedert sich in die folgenden Punkte:

  1. Das Medieninteresse, der Forschungsstand und die Quellenlage

  2. Ein Blick auf die Zeit von 1958 bis 1967, dem Gründungsjahr der Kinderschule Frankfurt

  3. Der Lebensweg der Gründerin der Kinderschule Frankfurt Monika Seifert

  4. Zur Kritik an den traditionellen Kindergärten; die Gründung der Kinderschule und das Prinzip der Selbstregulierung im pädagogischen Konzept

  5. Resümee und Ausblick

Medieninteresse

Von Anfang an erregten die Kinderläden ein lebhaftes Interesse der Medien. Stern (1969), Spiegel (1977), Fernsehen, Radio und Tageszeitungen brachten Berichte, die teils kritisch informativ, überwiegend aber polemisch waren oder vor den schlimmen Folgen der antiautoritären Erziehung warnten. Vor allem waren es die Fotos und Filmaufnahmen aus den Kinderläden, die bundesweit Aufsehen und Empörung erregten. Hierzu ein Beispiel:

In dem Film „Erziehung zum Ungehorsam“ von Gerhard Bott1. sieht man in einer kurzen Szene, wie Kinder aus der Kinderschule Frankfurt über die Tasten eines Klaviers laufen. Dagmar, die Kindergärtnerin, schimpft. „Geht ihr da runter vom Klavier! Hört ihr auf!“ Die Kinder gehorchen nicht, sondern spielen weiter auf dem Klavier. Es wird sodann erläutert, dass die Anweisung der Kindergärtnerin Teil eines Spiels ist, in dem Dagmar die Rolle der „Mecker-Lehrerin“, wie die Kinder das nannten, übernahm, deren Befehle sie mißachteten.“ 2

Zwei Botschaften enthält diese kleine Szene:

  1. Dass ein Kind, ohne dafür ernsthaft getadelt zu werden, auf den Tasten eines Klaviers herumtrampelt, verletzt die Normen jeder bürgerlichen Erziehung. Geschändet durch Kinderfüße wird ein Kulturgut, nämlich ein teures Instrument. Kurzum, diese Bilder ließen nicht gleichgültig, sondern riefen vielfach Empörung hervor.
    Man rezipierte dieses Bild als Beleg dafür, dass eine Pädagogik, die ein solches kindliches Verhalten zulässt, strikt abzulehnen sei. Wie stark der Symbolgehalt dieser Szene ist, zeigt sich daran, dass Fotos dieser Szene im Zusammenhang mit der antiautoritären Erziehung bis in die heutige Zeit immer wieder reproduziert wurden, zuletzt sah ich es in der TAZ vom 29./30. Dezember 2007.
    Was die Betrachter dieser Filmszene und der Fotos nicht wussten, war die Tatsache, dass dieses Klavier irreparabel kaputt und unspielbar war.

  2. Als eine ebenfalls starke Provokation wurde das freche Verhalten, der Ungehorsam der Kinder in dieser Szene gegenüber den Verboten der Kindergärtnerin empfunden, auch wenn es „nur“ ein Spiel war.
    Die Figur der „Meckerlehrerin“ ist jedoch keine Erfindung der Kinder oder der Kindergärtnerin, sondern dem Buch „Pipi Langstrumpf“ von Astrid Lindgren entlehnt. In diesem Buch spielt Frau Prysselius als strenge Aufpasserin eine ähnliche Rolle wie die „Mecker-Lehrerin“. Typisch für die damalige Zeit war es, dass dieses Kinderbuch von Astrid Lindgren von vielen Eltern und Pädagogen kritisiert und als pädagogisch ungeeignet abgelehnt wurde, weil das Kind Pipi frech und eigensinnig war und sich nicht an die Erwachsenenwelt anpasste.

Durch Bilder dieser Art wurde der Öffentlichkeit ein Bild der antiautoritären Erziehung vermittelt, in denen Kinder tun durften, was sie wollten, sich nicht an Regeln hielten, ungezogen und frech waren. Rückblickend schrieb Prof. Dr. Dieter Lenzen: „Nackte, ungezogene Kinder waren eine Provokation für die meisten Eltern, deren Erziehungsziele noch immer Ordnung, Sauberkeit und Gehorsam waren.“3

Obgleich nun seither mehr als 42 Jahre vergangen sind, hält die Auseinandersetzung mit der antiautoritären Erziehung bis heute an. Ich erinnere hier nur an das Buch von Bernhard Bueb „Lob der Disziplin“ und die Debatte, die es auslöste.

Forschungsstand und Erkenntnisinteresse

In den Jubiläumsjahren 1998 und 2008 wurde zwar viel über die 1968er Studentenbewegung veröffentlicht, aber die am nachhaltigsten wirkende antiautoritäre Erziehungsbewegung spielte nur eine untergeordnete Rolle, obgleich, wie die Historikerin Dagmar Herzog schrieb, die „Kinderläden und vergleichbare Experimente zu den größten konkreten Errungenschaften von APO und Studentenbewegung (zählten), und obwohl die Zahl der begeistert theoretisierenden radikalen Aktivisten klein blieb, regten die mit der antiautoritären Kindererziehung zusammenhängenden Grundvorstellungen die Fantasie weiter Kreise der Achtundsechzigergeneration sowie viele Liberale aus der älteren Generation an. Die Bewegung veränderte nicht nur die in Kindergärten, sondern auch die in Grundschulen geübte Praxis in der Bundesrepublik und beeinflusste in zahllosen Familien das Eltern-Kind-Verhältnis.“4 Es ist Dagmar Herzog zuzustimmen, dass in den vorliegenden Veröffentlichungen die antiautoritären Kinderläden unzureichend behandelt werden. Eine Ausnahme bildet das von Meike Sophie Baader 2008 herausgegebene Buch „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche“ (Beltz 2008), dessen erster Teil vier Aufsätze enthält, die sich mit der Entwicklung der Kinderläden (Baader), mit ihrem Einfluss auf die städtischen Kitas in Frankfurt (Pia Schmidt), mit der Sexualerziehung der 68er Bewegung (Christin Sager) und mit der Neuentdeckung der frühen Kindheit (Peter Cloos) befassen. Es ist ein sehr lesenwertes und anregendes Buch, aber eine umfassende Darstellung der Geschichte der antiautoritären Erziehungsbewegung und eine Analyse der pädagogischen Konzepte und Praxen kann es m. E. nicht ersetzen. Diese steht bis heute aus.

Wie aus meinen Veröffentlichungen ersichtlich habe ich seit 1971 über Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung mehrfach publiziert.5 Allerdings waren das stets kleinere Aufsätze zu sehr speziellen Problemen oder recht allgemein gehaltene Überblickskapitel, in denen ich die antiautoritäre Erziehung im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung des Kindergartens dargestellt habe. Diese kurzen Darstellungen erschienen mir unbefriedigend, und so entstand vor einiger Zeit bei mir der Wunsch, dieses Thema umfassender zu behandeln.

Neben meinem wissenschaftlichen Interesse an der antiautoritären Erziehungsbewegung schwingt auch ein starker subjektiver Faktor mit, denn schließlich habe ich mich als Mutter zweier Kinder von 1967 an aktiv an dem Experiment des repressionsfreien Kindergartens, der „Kinderschule Frankfurt“, beteiligt. Dieser Einrichtung, einem Vorreiter der antiautoritären Erziehungsbewegung, deren theoretische Grundlage vor allem die psychoanalytische Pädagogik war und in der Eltern und Bezugspersonen die Erziehungsarbeit als eine politische Arbeit begriffen, ist der Gegenstand meines Forschungs- und Erkenntnisinteresses. Eine herausragende Rolle spielte Monika Seifert als Gründerin. Sie hat ganz wesentlich das theoretische Fundament und die pädagogischen Ziele formuliert, noch bevor im Rahmen der Studentenbewegung in Berlin die antiautoritären Kinderläden entstanden. Insbesondere der Begriff der Selbstregulierung wurde von ihr als Ziel einer repressionsfreien Erziehung eingeführt mit weitreichenden Folgen für das Selbstverständnis und die Rolle der Bezugspersonen und das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen.

Quellenlage

Als ich im vorigen Jahr mit meiner Forschungsarbeit begann, musste ich feststellen, dass es mit Ausnahme der wenigen Veröffentlichungen über die Kinderschule aus der damaligen Zeit kaum schriftliches Material gibt. Nichts wurde archiviert und alle ehemaligen Bezugspersonen und Eltern, die ich angesprochen habe, hatten keine Protokolle, Mitschriften oder Berichte aufbewahrt. Die meisten der ehemaligen Kinderschuleltern hatten sie bei Umzügen weggeworfen. Eine Ausnahme bildete eine der damaligen Mütter, Marei Hartlaub, die noch immer in der gleichen Wohnung wie vor 40 Jahren lebt. Sie ist Diplomsoziologin, arbeitet seit vielen Jahren in der Erzieherinnenfortbildung und ist Mitverfasserin einiger Artikel über die „Kinderschule“, die Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre veröffentlicht wurden. Sie hat, offenbar als einzige, einen umfangreichen Ordner mit diversen Unterlagen bewahrt, den sie mir zur Verfügung stellte. Da ihr verstorbener Mann Michael Hartlaub im Vorstand des Vereins für angewandte Sozialpädagogik für die Finanzen zuständig war, enthält dieser Ordner auch Aufstellungen von Ein- und Ausgaben und Anträge auf Zuschüsse. Besonders aufschlussreich ist ein ausführlicher und unveröffentlichter Bericht von Doris von Freyberg, die von 1967 bis Weihnachten 1969 in der Frankfurter Kinderschule als Bezugsperson gearbeitet hat. Sie hat in diesem Bericht ausführlich dargelegt, welche Schwierigkeiten es bereitete, die Ziele in die pädagogische Praxis umzusetzen. Aber auch in diesem Ordner fehlen z. B. Protokolle von Elternversammlungen und den Konferenzen der Bezugspersonen.

Aufgrund der wenigen schriftlichen Quellen sind die Gespräche mit den damals beteiligten Eltern und Bezugspersonen aufschlussreich und besonders wichtig. Leider ist die Gründerin der Kinderschule, Monika Seifert, bereits im April 2002 im Alter von knapp 70 Jahren gestorben, so dass die wichtigste Person nicht befragt werden konnte. Ihre beiden Töchter haben Teile des Nachlasses in das Frankfurter Historische Museum gegeben, aber darin befinden sich keine Dokumente aus der Kinderschule Frankfurt. Auch das Stadtarchiv hat nur wenige Zeitungs- und Zeitschriftenberichte archiviert.

Einige der damals beteiligten Mütter und Bezugspersonen habe ich bereits interviewt, aber es stehen noch weitere Gespräche aus. Diese Gespräche führe ich immer gemeinsam mit Doris von Freyburg, Grundschullehrerin und psychoanalytische Kinder- und Jugendtherapeutin und wie bereits erwähnt, ehemalige Bezugsperson in der Kinderschule. Die Gespräche werden von uns protokolliert und ausgewertet.

Bislang habe ich die damals beteiligten Kinder nicht befragt, weil ich unsicher bin, ob es lohnend ist. Die damaligen Kinderschulkinder sind heute zwischen 40 und 45 Jahre alt. Nach meinen Erfahrungen sind bei Erwachsenen die Erinnerungen an Ereignisse vor dem 6. Lebensjahr sehr vage, vermischen sich oft mit dem, was die Eltern erzählten. Bei einer Veranstaltung des Historischen Museums in Frankfurt im August 2008, einer Podiumsdiskussion über die antiautoritäre Erziehung, waren unter den mehr als hundert Teilnehmern etliche der ehemaligen Kinder aus verschiedenen Kinderläden anwesend. In der sich anschließenden lebhaften Diskussion erzählten sie viel und differenziert aus ihrer Schulzeit in der „Freien Schule Frankfurt“, aber über die Jahre davor im Kinderladen sagten sie in etwa nur: „war eine prima Sache“ oder „wir haben toll gespielt“. Nur einer meinte, dass es doch sehr chaotisch gewesen sei. Dabei blieb allerdings unklar, ob er den Kinderladen, die Freie Schule oder das Familienleben meinte. Aufgrund dieser Erfahrung habe ich zunächst die ehemaligen Kinderschulkinder nicht befragt.

Politische Diskurse von 1958 bis 1965

Betrachten wir im Folgenden, welche gesellschaftspolitischen Themen die damalige junge Generation bewegte, aus denen sich die Elternschaft der Kinderschule Frankfurt rekrutierte.

Die ersten großen studentischen Demonstrationen nach dem Zweiten Weltkrieg fanden 1958 statt, als der Plan bekannt wurde, wonach die Raketen der Bundeswehr mit atomaren Sprengköpfen ausgerüstet werden sollten. Dagegen protestierten viele Studentinnen und Studenten an mehreren Universitäten und es entstanden die „Anti-Atom-Ausschüsse“ und die Bewegung „Kampf-dem-Atom-Tod“. Durch eine Vernetzung der einzelnen Gruppen entwickelten sich hieraus schließlich die „Ostermarsch-Bewegung“ und die Friedensbewegung, der sich auch andere politische Organisationen z. B. die Gewerkschaften anschlossen, so dass aus dem anfänglichen studentischen Protest eine auch andere Bevölkerungsschichten erfassende Bewegung wurde.

Ein weiteres Ereignis, mit dem sich diese Generation intensiv befasste, war 1963 der Auschwitz-Prozess in Frankfurt, durch den die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verstärkt wurde, ja eigentlich erst begann. Ein geistiges Zentrum dieser Diskussionen war das Institut für Sozialforschung an der Frankfurter Universität, an dem außer Theodor W. Adorno und Max Horkheimer auch Oskar Negt, Ludwig von Friedeburg, der spätere Hessische Kultusminister, und Jürgen Habermas arbeiteten. Dort untersuchten die aus dem Exil zurück gekehrten Sozialwissenschaftler Theodor W. Adorno und Max Horkheimer das Phänomen autoritärer Charakterstrukturen, ohne die, so ihre These, der breite Zulauf zur NSDAP und die Unterstützung der Nazis von Teilen der Bevölkerung undenkbar gewesen wäre. Adorno hielt 1966 im Hessischen Rundfunk einen Vortrag mit dem Titel „Erziehung nach Auschwitz“, aus dem seither immer wieder zitiert wird. Aufgrund seiner Untersuchungen über den „autoritären Charakter“ gelangte er zu der Auffassung, dass man, um einer Wiederholung des Nationalsozialismus entgegenzuarbeiten, sich dem Subjekt zuwenden müsse. „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“6 Damit weist Adorno der Erziehung eine ganz zentrale Aufgabe zu, die nach wie vor aktuell ist. Die Ziele könnten auch anders formuliert werden, wie z.B. psychoanalytisch gewendet, die Förderung der Ich-Stärke oder, wie es in der emanzipatorischen Erziehung formuliert wurde, die „Erziehung zum mündigen Bürger“.

Nach Adorno stellen sich zwei Aufgaben, nämlich zum einen, die Erziehung des Kindes auf die genannten Ziele hin auszurichten und zum zweiten, ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima zu schaffen, das eine Wiederholung nicht zuläßt. Eine Erziehung, die ihren Weg darin sucht, Anpassung durch die Androhung von Strafe zu erzwingen, verhindert damit, dass Heranwachsende zu selbstbewußten und kritischen Menschen werden. Im Anschluss an die Forschungen von Adorno und Horkheimer machte man die autoritäre Erziehung in Familien und Schulen dafür verantwortlich, dass das nationalsozialistische Regime von breiten Kreisen der Bevölkerung akzeptiert und z. T. auch aktiv unterstützt wurde.

Auch die spätere Gründerin der Kinderschule Frankfurt, Monika Seifert, auf deren Lebensweg ich im Folgenden eingehe, studierte am Institut für Sozialforschung.

Monika Seifert, geb. Mitscherlich

Monika Seifert, geborene Mitscherlich entstammt der ersten Ehe von Alexander Mitscherlich mit der Ärztin Dr. Melitta Behr. Sie wurde 1932 als deren älteste Tochter in Berlin geboren. Aber kurz nach der Geburt der zweiten Tochter im November 1934 trennte sich das Ehepaar und Melitta Mitscherlich zog mit den Kindern nach Bad Kissingen, wo sie die Leitung des Sanatoriums ihres Vaters übernahm.

Im Alter von 5 Jahren erkrankte Monika an Kinderlähmung, einer Krankheit, die damals häufig tödlich verlief. Monika hat diese schwere Krankheit überlebt, aber mit weitreichenden Folgen für ihre Gesundheit. Das Wachstum war schwer gestört, sie wurde nur etwa 1,50 m groß, betroffen war insbesondere die Wirbelsäule, so dass sich ein Buckel bildete, ein Bein blieb kürzer und teilweise gelähmt. Sie musste viel liegen und wurde wegen ihrer starken Behinderung nicht eingeschult. Zwischen den zahlreichen Kuren und Krankenhausaufenthalten erhielt sie Privatunterricht. Insgesamt hatte sie etwa 10 Jahre Privatunterricht und hat nur etwa 4 Monate (von März 1947 bis zum 19. Juli 1947) eine Schule besucht.

Als sie 19 Jahre alt war, musste sie sich einer schweren Wirbelsäulenoperation unterziehen, bei der einige Wirbelkörper versteift wurden. Danach arbeitete sie im Sanatorium ihrer Mutter als „Mädchen für alles“, geht für ein Jahr nach Paris, um französisch zu lernen und absolviert eine Lehre zur Kosmetikerin. Durch diesen Berufsabschluss konnte sie an der Hochschule für Politik in Wilhelmshaven ein Propädeutikum zur Erlangung der Allgemeinen Hochschulreife absolvieren.

1956 trat M. S. in den SDS (Sozialistischen Deutschen Studentenbund) ein und wurde 1959 als einzige Frau zum Mitglied des Bundesvorstandes des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes gewählt. Ferner engagierte sie sich in der Ant-Atom-Bewegung und war Mitgründerin des „Anti-Atom-Ausschusses“ an der Hochschule in Wilhelmshaven.

1959 ging Monika Mitscherlich an die Frankfurter Universität und studierte dort Soziologie am Institut für Sozialforschung. 1963 schließt sie ihr Studium mit dem Diplom in Soziologie ab. Das Thema ihrer von den Professoren Theodor W. Adorno und Helmuth Becker betreuten Diplomarbeit lautete „Zur empirischen Erforschung autoritärer Charakterstruktur“

Schon bei der Vorbereitung ihrer Diplomarbeit hat sie sich auch mit den Schriften des Psychoanalytikers Wilhelm Reich auseinandergesetzt und ist hierbei auf den Begriff der Selbstregulierung gestoßen. Nach ihrer Diplomprüfung befasste sie sich weiter intensiv mit psychoanalytischer Theorie. Sie las u. a. die Schriften von Melitta Schmiedberg und Anna Freud und sie setzte sich mit Vera Schmidt Kinderheimlaboratorium in Moskau von 1920 und mit dem nach psychoanalytischen Gesichtspunkten geführten Kindergarten von Nelly Wolffheim in Berlin in den 30er Jahren. Die Universität Frankfurt war dafür ein günstiges Umfeld. 1964 hat ihr Vater Alexander Mitscherlich das Sigmund Freud-Institut an der Frankfurter Universität gegründet, das er in den folgenden sieben Jahren leitete. Auch das Institut für Sozialforschung hatte eine psychoanalytische Ausrichtung. Hinzu kam der familäre Hintergrund, denn außer ihrem Vater, dem Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, war auch ihre Mutter, Melitta Mitscherlich, Psychoanalytikerin und gilt allgemein als die Gründerin der psychosomatischen Medizin.

Seit 1960 war Monika Mitscherlich mit dem Juristen Jürgen Seifert verheiratet, der ab 1971 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hannover wurde. Seit ihrer Eheschließung hieß sie nunmehr Monika Seifert. Als sie schwanger wurde, rieten ihr die Ärzte dringend davon ab, das Kind auszutragen, da eine Geburt für sie lebensbedrohend sein würde. Trotzdem geht sie das Risiko ein, und im November 1964 kommt ihre Tochter zur Welt, die sie Anna nach der berühmten Tochter von Sigmund Freud nennen.

Monika Seifert hatte eine andere Vorstellung von den Aufgaben der Mutter und den Entwicklungsbedürfnissen des Kindes als es damals üblich war. 1974 schrieb sie rückblickend: „Als ich nach mehreren Jahren politischer Arbeit 1964 ein Kind bekam und meine neue Situation auch als ein politisches Problem begriff, erntete ich allenfalls Achselzucken. Der Versuch, kollektive Lebensformen für die Kinder schon vor dem Kindergarten zu entwickeln, wurde selbst von den Genossinnen nicht verstanden. Die gängige Auffassung, dass das Kind seine Mutter brauche, verhinderte die Einsicht, dass Kind und Mutter noch etwas anderes brauchen.“ 7 Denn Kinder hätten bereits vor dem dritten Lebensjahr das Bedürfnis, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Sie vertrat die Auffassung, dass „Organisatorische Lösungen, die Mütter und Kinder einen Teil des Tages voneinander entlasten, nicht nur etwas Gutes für die Mütter sind sondern auch für die Kinder. (Großmütter, Tagesmütter u.w.s. sind deshalb keine solche Lösung, weil sie ein Grundbedürfnis des Kindes – auch bevor es drei Jahre alt ist – nach regelmäßigem Kontakt zu einer Gruppe von Kindern nicht erfüllen. Nur Lösungen, die die Kinder in ihren Beziehungen zumindest stundenweise von Erwachsenen unabhängig machen, können jenes Vertrauen und die Sicherheit geben, emotionale Bedürfnisse zu äußern. Spielplatzkontakte z. B. können das nicht – auch wir öffnen uns nicht jedem x-beliebigen Partner.“ Die Forderung der Gesellschaft an die Frauen, dass sie ganz in ihren Kindern aufgehen sollten, sei weder in deren noch im Interesse der Frauen. Monika Seifert wendet sich jedoch dagegen, die Kinderbetreuung als Voraussetzung für die Befreiung der Frau durch Erwerbsarbeit zu sehen. Sie widerspricht der Auffassung, dass Frauen sich nur durch Erwerbsarbeit befreien könnten. Und fährt fort: „Der „freigesetzten“ Genossin, wird also sofort ein neuer Zwang vermittelt, kaum dass sie das totale Mutter-Sein los (ist).“ 8

Im Februar 1966 ging sie zum Zweitstudium der Psychoanalyse nach London an das Tavistock Institute, dem englischen Freud-Institut. Sie studierte u. a. bei Prof. Bowlby Probleme der Hospitalismus. Ein weiterer Studienschwerpunkt war die Behandlung erziehungsschwieriger Kinder.

Sie nahm ihre Tochter mit nach London, benötigte dort eine Betreuung und fand eine alternative Einrichtung, die Kirkdale School. Damals besuchten diese kleine Schule, die sich noch im Aufbau befand, nur wenige Kinder im Alter von etwa 3 bis 8 oder 9 Jahren. Man orientierte sich in der pädagogischen Arbeit an dem Konzept von Alexander S. Neill, dessen Buch über seine Schule in Summerhill auf Englisch bereits1960 erschienen war. Als Vorbild für eine freie Erziehung betrachtete man außerdem das Buch von Paul and Judy Ritter „The free Family“, das 1959 veröffentlicht wurde. Beide Bücher wurden erst einige Jahre später ins Deutsche übersetzt. Neills Buch über Summerhill brachte der Szesny Verlag 1965 in einer schönen Leinenausgabe heraus, die sich allerdings schlecht verkaufte. Vier Jahre später erwarb der Rowohlt Verlag die Lizenz und publizierte es als Taschenbuch unter dem Titel „ A. S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung – das Beispiel Summerhill“. Innerhalb eines knappen Jahres, von Dezember 1969 bis November 1970, wurden von diesem Taschenbuch 60.000 Exemplare verkauft.

Neills Buch Summerhill wurde in vielen erziehungswissenschaftlichen Seminaren behandelt, jedoch stellt sich die Frage, ob die Wissenschaftler Neills Schule aus eigener Anschauung kannten? Inge Hammelmann, eine Redakteurin der Gewerkschaftszeitschrift Erziehung und Wissenschaft, wollte es genau wissen und fragte prominente Erziehungswissenschaftler. Unter der Überschrift „Schulschwänzer – eine indiskrete Liste“ 9 veröffentlichte sie die Ergebnisse ihrer Recherche. Die Liste derer, die nicht dort waren, ist lang. Dazu gehörten u. a.: die Professoren Hartmut von Hentig, Klaus Jürgen Tillmann, Klaus Klemm, Klaus Hurrelmann, Hans Günther Rolff, und Oskar Negt. Ebenso waren Monika Seifert-Mitscherlich und Renate Stubenrauch, Lehrerin an der „Freien Schule“ nie dort. Auch mich fragte Inge Hammelmann und ich musste zugeben, dass ich ebenfalls nie dort war.

Zur Kritik an den traditionellen Kindergärten

Die Gründung alternativer Kindergärten war neben anderen Faktoren, auf die ich noch eingehen werde, auch eine Reaktion auf den kritikwürdigen Zustand der damaligen Einrichtungen. Etwa 75 Prozent der Kindergärten befanden sich in der Trägerschaft der beiden großen kirchlichen Wohlfahrtsverbände, der Caritas und dem Diakonischen Werk. Demgegenüber spielten die Kommunen als Träger eine geringere Rolle, ebenso der Paritätische Wohlfahrtsverband oder die Arbeiterwohlfahrt. Nur für etwa 30 Prozent aller Drei- bis Sechsjährigen stand ein Platz in einem Kindergarten bereit, und für weniger als 10 Prozent der Kinder gab es Plätze in Ganztagseinrichtungen. Die Gruppen waren in der Regel sehr groß und in den Kindergärten arbeiteten viele Frauen ohne pädagogische Qualifikation, der Erziehungsstil überwiegend autoritär. Sozialisationsforscher hatten in den 60er Jahren einen Zusammenhang zwischen vorschulischer Förderung und dem späteren Schulerfolg festgestellt, so dass das quantitativ und qualitativ unzureichende Angebot kritisiert und der Kindergarten als Bildungseinrichtung eine neue Bewertung erfuhr

1969 verfasste Monika Seifert einen Beitrag für die links-katholische Zeitschrift Publik10. Dort heißt es: „Mit den progressiven Bildungspolitikern sind wir der Meinung, daß unseren Drei- bis Sechsjährigen intellektuelle Anregung vorenthalten wird. Es geht aber nicht so sehr darum, ihnen schon Fertigkeiten beizubringen, wenn sie danach noch gar nicht fragen.“ Sie fordert, dass das Lernangebot von den Fragen der Kinder ausgehen sollte. M. S. verweist darauf, dass es notwendig ist, die Kindergärten wie auch die Schulen und Hochschulen zu reformieren, wobei aber eine „technizistische Lösung“ vermieden werden müsse. „Richtschnur der „technizistischen“ Reform ist die gegenwärtige primär an Leistung und bloßer Zweckrationalität orientierte Gesellschaft, nicht aber der realisierbare Zustand, in dem die Vorbereitung auf Arbeit – schon auf Grund der zu erwartenden Arbeitszeitverkürzung – zurückgedrängt werden kann zugunsten der Entfaltung der Fähigkeiten, das Leben selbst zu gestalten und zu einem ‚erfüllten Leben’ zu machen. … Die heute geborenen Kinder aber haben den Anspruch, die Fähigkeit zu erlernen, ihre Bedürfnisse selbst zu entfalten und zu befriedigen.“ In den bestehenden Kindergärten könnten die Bedürfnisse der Kinder schon auf Grund der Gruppengröße von 20 bis 25 Kindern bei einem Erwachsenen, der häufig noch ungenügend ausgebildet ist, nicht erfüllt werden. An den bestehenden Kindergärten kritisiert sie, dass deren Konzept davon ausgehe, „daß Erwachsene das Geschehen im Kindergarten bestimmen. Dadurch werden die Kinder auf den Erwachsenen fixiert. Mit seinen Normen, Bedürfnissen und Wünschen sollen sie sich identifizieren. Honoriert wird jede Anstrengung sich anzupassen.“

Bei der Gründung der Kinderschule Frankfurt ging es Monika Seifert darum, eine experimentelle Vorschuleinrichtung zu schaffen. Die Kinderschule Frankfurt wurde von Monika Seifert primär nicht deshalb gegründet wurde, um Müttern eine Berufstätigkeit oder ein Studium zu ermöglichen, sondern es ging ihr darum, eine andere, nicht repressive Form der Pädagogik zu praktizieren.

M. S. widerspricht der in der Frauenbewegung gängigen Auffassung, dass Frauen sich nur durch Erwerbsarbeit befreien könnten. „Hier noch einige pragmatische Gründe, die gegen eine sofortige Berufstätigkeit von Müttern sprechen, wenn die Kinder untergebracht sind; vorausgesetzt, das ist aus wirtschaftlichen Gründen nicht unumgänglich. Die Doppelbelastung bleibt trotz zeitweiliger Entlastung von den Kindern. Dabei sollte man besonders berücksichtigen, daß Frauen auch einen Anspruch auf Freizeit haben, den sie nur in der Zeit realisieren können, in der ihre Kinder anderweitig versorgt sind. Frauen haben meist ihr ganzes Leben ein Defizit an freier Zeit; schon als Kinder verstanden sie mehr vom Haushalt, konnten besser kochen usw., was Mütter, Brüder und Väter weidlich ausnützten. Außerdem hatten sie weniger Zeit für Bildung und Ausbildung. Das nachzuholen ist legitim; Frauen gleich wieder unter Druck zu setzen und ihnen z. B. klarzumachen, sie sollten Abitur machen und studieren, ist nicht legitim.

Das Emanzipationsprogramm Kinder, Kindergruppe, eigener Beruf ist im Grunde auch wieder eine männliche bzw. männlichen Prinzipien unterliegende Erfindung.“ 11

So sympathisch das Argument von dem Anspruch der Frau auf Freizeit auch ist, so geht es an der Realität der Familien und der Frauen vorbei, wenn wir an die große Anzahl Alleinerziehender oder an die Altersarmut von Frauen denken, die durch die frauenspezifischen, gebrochenen Berufsbiographien entstehen.

Die Gründung der Kinderschule Frankfurt September 1967

Monika Seifert, die also eine alternative freie Schule in London und die bis dahin nur auf Englisch vorliegenden Bücher von Neill und Ritter kannte, kehrte im Mai 1967 nach Frankfurt zurück und plante dort ebenfalls einen alternativen Kindergarten ins Leben zu rufen. Sie begann damit, in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis nach gleichgesinnten Eltern für die Gründung eines alternativen, repressionsfreien Kindergarten zu werben.

Sehr schnell fanden sich die ersten Eltern und nach nur kurzer Vorbereitungszeit, in der die Kinder zunächst zweimal in der Woche und schon bald täglich für zwei Stunden zum Malen und Spielen zusammenkamen, wurde im September 1967 der bundesweit erste repressionsfreie Kindergarten, die „Kinderschule Frankfurt“ gegründet. Eine Elterninitiativgruppe verfügt über nur wenig Geld und die räumliche Unterbringung stellte sich in Frankfurt als sehr schwierig dar. Deshalb kaufte die Familie Seifert gemeinsam mit einer Psychoanalytikerin das alte, ziemlich heruntergekommene Mietshaus Eschersheimer Landstraße. 107. In diesem mietete die Kinderschule eine Wohnung im Erdgeschoss.

Nach den Vorstellungen von Monika Seifert sollte die Kinderschule Frankfurt eine „Integration von Kindergarten, Vorschule und später evtl. Grundschule“ sein. Unschwer lässt sich hier die Kirkdale School als Vorbild erkennen. In der Begründung hieß es: „Intellektuelle Bedürfnisse nicht schulpflichtiger Kinder wurden in den meisten Kindergärten bisher nicht in ausreichendem Maße befriedigt. Für den größten Teil der Kinder bedeutet der Schuleintritt unter den gegebenen Verhältnissen einen Schock, da eine angemessene Koordination der Sphäre des Spielens und des Lernens infolge der Trennung der traditionellen Institutionen: Kindergarten – Schule nicht erreicht werden konnte. Die Vorbereitung der Kindergärten auf die Schule beschränkt sich weitgehend auf Disziplintraining und Einübung von Anpassungsmechanismen.

Demgegenüber sind wir der Ansicht, daß Spielen und Lernen – zumindest in den ersten zehn Lebensjahren – nicht getrennt werden sollten, weder hinsichtlich der Altersphasen noch hinsichtlich der außerfamiliären Erziehungseinrichtungen.“ 12

Das ursprüngliche Ziel, eine gemeinsame Einrichtung für Kinder vom 3. bis zum 12. Lebensjahr zu schaffen, wurde erst 1974 mit der Gründung der „Freien Schule Frankfurt“ verwirklicht, die als die erste Alternativschule in der Bundesrepublik gilt.

Der Kinderschule Frankfurt war kein langes Leben beschieden. 1971 musste die Familie Seifert das Mietshaus verkaufen. Und im darauf folgenden Jahr verlor die Kinderschule Frankfurt ihre Räume in der Eschersheimer Landstraße. 107. Sie wurde noch für kurze Zeit in anderen Räumen fortgeführt und dann geschlossen.

Die erste Generation der Kinderschulkinder wurde 1970 eingeschult. Nach langen Verhandlungen wurde eine Grundschule gefunden, die alle Kinder der Kinderschule Frankfurt in eine Klasse aufnahm. Mit ihrer Lehrerin, Renate Stubenrauch, konnte man, soweit dieses in einer öffentlichen Grundschule möglich war, konzeptionell an die Ziele und Methoden der Kinderschule Frankfurt anknüpfen. Als im zweiten Jahr für die dann schulpflichtigen Kinder eine solche Konstruktion nicht möglich war, ging man daran eine eigene private Alternativschule zu gründen.

Die 1974 gegründete Freie Schule Frankfurt kann als direkte Nachfolgerin betrachtet werden, denn wiederum war der Verein für angewandte Sozialpädagogik e. V. Träger der Freien Schule und auch an dieser Gründung war Monika Seifert maßgeblich beteiligt. Erst 1986, nach einem 12-jährigem Rechtsstreit mit dem Hessischen Kultusministerium erhielt die „Freie Schule Frankfurt“ die staatliche Anerkennung. Heute ist sie eine private Grundschule mit Förderstufe und angeschlossener Kindertagesstätte und wird von etwa 50 Kindern besucht.

Ziel und Methode der Selbstregulierung

Monika Seifert fasste ihre pädagogische Konzeption unter den folgenden drei Punkten zusammen13:

  • „Das Kind muß sein Bedürfnis frei äußern und selbst regulieren können.

  • Die Kinder müssen ohne Schuldgefühle – also frei von dem, was wir heute Moral nennen – in funktional begründeter Rücksichtnahme aufwachsen können.

  • Das Lernen muß primär von den Fragen des Kindes ausgehen und nicht auf einem für das Kind notwendig abstrakt erscheinenden Programm beruhen.“14

Monika Seifert geht ausführlich auf die Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser Ziele ein, die sie vor allem darin sieht, dass Eltern und Bezugspersonen selbst autoritär erzogen wurden. „Sie mögen noch so guten Willens sein, ihre eigene autoritäre Erziehung (können) sie nicht ganz verleugnen. …. Sie haben dann Angst, den Kindern Zuwendung, Anregung und Material zu geben, weil sie glauben, die Kinder damit wieder autoritär zu beeinflussen. Sie verkennen, dass menschliches Aufwachsen kein bloß naturwüchsiges ist, sondern heute primär sozial beeinflusst ist. Sie verkennen auch, dass die Einrichtung eines antiautoritären Kindergartens die Kinder nicht sofort von allen Schwierigkeiten befreit. Es muß vielmehr damit gerechnet werden, daß alles erst einmal ans Licht kommt, was sie verdrängten, obwohl sich ihre Eltern große Mühe gaben. Die Kinder werden in den ersten Monaten eher mehr Schwierigkeiten haben als vorher. Man muß mit Aggressionen rechnen und damit, daß sie die mit ihnen arbeitenden Erwachsenen mit ‚unvernünftigen Handlungen’ auf die Probe stellen, um zu wissen, ob sie wirklich freundlich bleiben, wirklich nicht strafen. Da auch die Erwachsenen in dieser Phase unerfahren sind, besteht die große Gefahr, daß sie auf alte Verhaltensweisen zurückgreifen. Die Kinder sind dann plötzlich wieder ganz brav, womit bewiesen wäre, daß es eben nicht ganz nicht ohne Sanktionen geht.“

Von Anfang an bereitete der Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen in allen antiautoritären Kindergärten mehr Schwierigkeiten als die Tolerierung kindlicher Sexualität. Als grundsätzliche Orientierung galt auch für den Umgang mit der kindlichen Aggressionen, dass Erwachsene sich nicht einmischen sollten. Das war keine erfolgreiche Strategie, weil die Aggressionen in der Gruppe anwuchsen und bei anderen Kindern Angst erzeugte. Ob aufgrund dieser Beobachtungen eine Veränderung der pädagogischen Konzeption erfolgte, müsste durch eine Analyse von Protokollen geklärt werden, die noch aussteht.

Auf einen weiteren Aspekt der Selbstregulierung weist Monika Seifert im Folgenden hin: Eine Voraussetzung für die Entwicklung eines autonomen Ichs ist die Fähigkeit der Realitätsprüfung von entscheidender Bedeutung. Dies ist Kinder ein schwieriger Lernprozeß. Dafür nennt sie folgende Beispiele: das Kind soll „plötzlich selbst beurteilen, ob es zu gefährlich ist, auf einen Baum zu klettern, oder ob man besser einen Pullover anzieht, um sich nicht zu erkälten.“

In der pädagogischen Praxis hat sich aus den Wechselbeziehungen zwischen den artikulierten Bedürfnissen der Kinder und den bereitwillig auf sie eingehenden Bezugspersonen ein bestimmtes Repertoire pädagogischer Angebote entwickelt, wie z. B. Rollenspiele, Feuermachen, Kochen und Backen, Besichtigung von Arbeitstätten, Basteln und Werken. M. S. führt aus, dass Kinder neugierig seien und ihre Lernkapazität größer sei, als bislang angenommen werde. M. S. plädiert dafür, den Kindern möglichst viele Reize und Angebote zu bieten, um das Fragen der Kinder zu fördern. Wer Kinder von Dingen fernhalte um eine „fiktive Kinderwelt zu erhalten“15 behindere den Lernprozess.

Resümee und Ausblick

Die von Elterninitiativen getragenen Krabbelgruppen und Kindergärten haben sich neben den Einrichtungen der Kommunen und der freien Wohlfahrtsverbände behauptet. Heute gibt es die von Elterninitiativen gegründeten Kindertageseinrichtungen in fast allen größeren Städten Deutschlands. Allein in Hessen gibt es etwa zwanzigtausend Plätze in selbstorganisierten Krabbelgruppen, Kinderläden, Schülerläden, Horten und in altersgemischten Einrichtungen. Seit 1990, als rund viertausend Plätze gezählt wurden, hat sich die Zahl verfünffacht.

Zum Schluss möchte ich nur sehr kurz darauf hinweisen, dass tief greifende Veränderungen in Kindergärten und Schule stattfanden, was allgemein bekannt sein dürfte. Deshalb möchte ich zum Schluss noch den Erziehungswissenschaftler Hans Rauschenberger zitieren, der m. E. auf das Wesentliche hinweist, nämlich auf die Problematik des Autoritätsbegriffs.

Meines Erachtens hat sich die Art, wie die Generationen miteinander umgehen in den vergangenen vier Jahrzehnten langsam zum Besseren verändert. … Inzwischen hat der Umgangston zwischen Erwachsenen und Kindern nicht nur in der Schule, sondern auch in den meisten Familien eher partnerschaftliche Züge angenommen. Auch dies ist nicht von heute auf morgen geschehen. Nicht wenige Eltern sind als autoritär beschimpft worden, bis alle Beteiligten begriffen hatten, dass es gar nicht um die Liquidierung der Autorität schlechthin gegangen war, sondern nur um die Befreiung aus einem veralteten Autoritätskonzept.“

1 Ausstrahlung am 1. Dezember 1969 in der ARD,

2 Bott, Gerhard (Hrsg.): Erziehung zum Ungehorsam. Kinderläden berichten aus der Praxis der antiautoritären Erziehung. Frankfurt a. M. : März, 1970, S. 97

3 Dieter Lenzen: Die Arbeiterkinder an die Uni zu bekommen, ist gescheitert. In: Stern 6.12.2007, S. 82

4 Herzog, Dagmar, S. 200

5 Wilma Grossmann: Elterninitiativen für repressionsfreie Erziehung. In: Heinz Grossmann: Bürgerinitiativen – Schritte zur Veränderung, Frankfurt 1971, S. 33-53; dies.: Vorschulentwicklung. Historische Entwicklung und alternative Modell. Köln 1974, Kap. 9 Antiautoritäre, sozialistische Erziehung. S. 201-215; dies.: Kindergarten. Eine historisch-systematische Einführung in seine Entwicklung und Pädagogik. Weinheim 1987. Kap. VIII Neue Elterninitiativen. S. 88-96; dies.: Vor dreißig Jahren   Rückblick auf die Gründungsphase einer Elterninitiative. Frühe Kindheit und Geschlechterverhältnisse in der Sozialpädagogik. Konjunkturen in der Sozialpädagogik. Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft, Festschrift für Prof. Dr. Heide Kallert.

Hrsg. von Dagmar Beinzger und Isabell Diehm 2003, , S. 71-87

6 Adorno Ebenda. S.92

7 August Bebel: Die Frau und der Sozialismus als Beitrag zur Emanzipation unserer Gesellschaft. Bearbeitet und kommentiert von Monika Seifert. Hannover: Fackelträger-Verlag, 1974

8 M. Seifert a. a. O. , S. 369

9 Inge Hammelmann: Schulschwänzer. Eine indiskrete Liste. In: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur. Nr. 36, 1993, S. 92f

10 Monika Seifert: Eine progressive Antwort – Der antiautoritäre Kindergarten. In: Publik 14.3.1969

11 Seifert 1974, S. 369

12 Schreiben an den Hessischen Kultusminister vom 14. September 1968

13 Monika Seifert stand in der Tradition der kritischen Theorie wie sie von Horkheimer und Adorno entwickelt wurde, und der psychoanalytischen Pädagogik. Sie nannte die folgenden Schriften als besonders wichtige Grundlagen der antiautoritären Erziehung:

Wilhelm Reich: „Die sexuelle Revolution“, erstmals erschienen 1927,

Paul and Jean Ritter: Free Family, London 1959 und

Alexander S. Neill: Erziehung in Summerhill. Auf Deutsch 1965

14 Seifert: Zur Theorie der antiautoritären Kindergärten. Aus: Konkret Nr. 3 / 1969. Abgedruckt in: M. Seifert; H. Nagel (Hrsg.): Nicht für die Schule leben. Ein alternativer Schulversuch Freie Schule Frankfurt, Frankfurt 1977, S. 13

15 Monika Seifert: Antiautoritäre Erziehung. In Selma Freiberg: Das verstandene Kind. Die ersten fünf Jahre. Hamburg 1969, S. 305-317