Wilma Aden-Grossmann: Von der Hausaufgabenhilfe zum Mehrgenerationenhaus.

Vortrag zum 40-jährigen Jubiläum des Vereins „Kinder im Zentrum Gallus“, Frankfurt im Kaisersaal, 24. September 2015

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, Sehr geehrter Herr Gerbig, liebe Ursula Werder, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Mehrgenerationenhauses.

Es ist mir eine Ehre und eine Freude, dass ich heute mit Ihnen und allen Gästen das 40jährige Jubiläum des „Vereins Kinder im Zentrum Gallus“ hier im Kaisersaal feiern kann. Dieser Saal mit seiner feierlichen Atmosphäre ist ein sehr guter Rahmen, um die herausragenden Leistungen des Mehrgenerationenhauses und den Trägerverein zu würdigen.

2015-09-24 mit Feldmann

Von links: Prof. Dr. Wilma Aden-Grossmann, Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann, Herbert Gerbig, Vorsitzender des Vereins Kinder im Zentrum Gallus

Blicken wir zunächst auf die Anfänge des Mehrgenerationenhauses zurück. Ich erinnere mich gut an die bescheidenen Anfänge 1974, als eine Gruppe Studierender aus meinem Seminar mit der Hausaufgabenbetreuung an der Günderrodeschule im Gallus begann.

Die Gründerinnen und Gründer der Hausaufgabenhilfe waren Studentinnen und Studenten, die Anfang der 1970er Jahre Pädagogik an der Frankfurter Goethe-Universität studierten und im Wintersemester 1972/73 an meinem Projektseminar mit dem Thema „Ausländische Arbeiterkinder im deutschen Bildungssystem“ teilnahmen. Dieses Thema hatte ich gewählt, weil die Zahl der ausländischen Familien mit Kindern unter 16 Jahre in den 1960er Jahren erheblich gestiegen war und die Schulen dadurch vor neue Herausforderungen gestellt wurden.

Betrachten wir zunächst wie hoch die Zahl ausländischer Kinder in der Bundesrepublik war. 1970 betrug die Zahl der ausländischen Kinder unter 16 Jahren in der gesamten Bundesrepublik etwa 433.000. Die Schulen waren den damit verbundenen Herausforderungen nicht gewachsen. Die Benachteiligung der sog. „Gastarbeiterkinder“ im Bildungssystem zeigte sich daran, dass nach einer Erhebung des Landes Nordrhein-Westfalen etwa 60 Prozent der ausländischen Schülerinnen und Schüler die Schule ohne Schulabschluss verließen. 37 Prozent hatten einen Hauptschulabschluss und nur 2 Prozent konnten die Fachoberschule besuchen. (NRW)

Besonders gravierend war die Tatsache, dass z.B. in Frankfurt im Schuljahr 1969/70 etwa 25 Prozent der schulpflichtigen ausländischen Kinder keine Schule besuchten. Vielen ausländischen Eltern war nicht bekannt, dass ihre Kinder, auch wenn sie z.B. die 6jährige Schulpflicht in Griechenland erfüllt hatten, in Deutschland bis zur 9. Klasse schulpflichtig waren. Zu Recht sprach man damals von einem Bildungsnotstand der ausländischen Kinder.

In dem von mir angebotenen Seminar wurde die Literatur über die politischen und soziologischen Ursachen der Arbeitsemigration gelesen, und es wurden pädagogische Konzepte für die außerschulische Arbeit entwickelt, um der Benachteiligung ausländischer Kinder im Bildungssystem entgegenzuwirken. Vorbilder hierfür gab es noch nicht. Mit diesem innovativen Projektseminar betraten wir pädagogisches Neuland.

Als praktisches pädagogisches Projekt der außerschulischen Betreuung, wollte eine Gruppe aus dem Seminar Hausaufgabenhilfe für Gastarbeiterkinder an einer Schule anbieten, in der es eine größere Zahl ausländischer Kinder gab. Die hochmotivierten Studentinnen und Studenten suchten nun eine Schule, an der sie ihre pädagogischen Vorstellungen verwirklichen konnten. Sie wollten nicht nur bei den Hausaufgaben helfen, sondern sie wollten die Kinder ganzheitlich fördern mit Spielen, Sport und Ausflügen und durch Elternberatung.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die pädagogische Szene in Frankfurt zur damaligen Zeit. Wie in kaum einer anderen Stadt hatten hier die Ideen der antiautoritäre Erziehungsbewegung viele Anhänger gefunden: So gründete z.B. Monika Seifert 1967 in Frankfurt den bundesweit ersten antiautoritären Kinderladen. Aus diesem Kinderladen ging 1974 die Freie Schule Frankfurt hervor, die im vorigen Jahr ihr 40-jähriges Jubiläum beging. Man wollte in diesen selbstorganisierten Einrichtungen es den Kindern ermöglichen, selbstbestimmt zu lernen und zu spielen. Auch die Einbeziehung der Eltern gehörte zum Konzept der antiautoritären Erziehungsbewegung.

Diese Vorstellungen teilte auch die Projektgruppe und entwickelte hieraus ein innovatives Konzept für die geplante Hausaufgabenhilfe für ausländische Kinder.

Es erwies sich als schwierig, eine Schule zu finden, die bereit war, ein solches Projekt aufzunehmen.. 1973 konnte die Projektgruppe schließlich an der Günderrodeschule, einer Grundschule im Gallus, mit der Hausaufgabenhilfe für ausländische Kinder beginnen. Im Einzugsbereich der Schule waren damals 25 Prozent der Wohnbevölkerung Ausländer. An der Schule selbst gab es 70 ausländische Kinder, das entsprach einem Anteil von 15 Prozent. Die Projektgruppe arbeitete mit einem ganzheitlichen pädagogischen Konzept, in dem die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen einbezogen wurde. Neben der Hilfe bei den Hausaufgaben wurde die deutsche Sprache geübt, es gab Konzentrationsübungen, Gesellschaftsspiele, Sport und Ausflüge. Auch eine intensive Elternarbeit und die Vernetzung mit anderen Einrichtungen im Stadtteil gehörten zur Konzeption.

Nach etwa einem Jahr kam es zum Konflikt zwischen der Projektgruppe und der Schule. Der Rektor bestand darauf, dass die Projektgruppe neben der eigentlichen Hausaufgabenbetreuung Deutschunterricht erteilen sollte, was diese ablehnte, denn damit würde die Hausaufgabenhilfe zu einer billigen Ersatzschule. Der Konflikt, über den auch die Frankfurter Allgemeine berichtete, eskalierte und bei einer Elternversammlung stärkten die ausländischen Eltern der Projektgruppe den Rücken. Sie lobten die pädagogische Arbeit der Studenten, weil sich die Schulleistungen ihrer Kinder verbessert hatten und forderten die Weiterführung der Hausaufgabenhilfe. (vgl. FAZ 27.5.1974).

Der Konflikt zwischen der Schule und der Projektgruppe wurde nicht gelöst. Die Projektgruppe konnte folglich an der Schule nicht weiter arbeiten, wurde „heimatlos“ und drohte sich aufzulösen. Aber gemeinsam mit dem Spanischen Elternverein gründete sie 1975 den „Verein für ausländische Kinder“, der am 14. Mai 1975 in das Vereinsregister eingetragen wurde. 1976 erlangte der „Verein für ausländische Kinder“ die Anerkennung als Träger der Freien Jugendhilfe. Von nun an finanzierte die Stadt eine Stelle für einen Sozialarbeiter und die Miet- und Sachkosten.

Auch in den kommenden Jahren gab es immer wieder Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt. Neben der Beschaffung von Geld war es über viele Jahre hinweg auch ein Problem, geeignete Räume zu finden. So musste 1997 der Verein von einem oberen Stock in den Keller umziehen, weil die Stadt die Räume zu Wohnungen umbauen wollte. Damit war tatsächlich einen „Tiefstand“ erreicht. Ursula Werder schreibt: „Wie es aber manchmal in Krisen so ist, werden auch Ressourcen mobilisiert: Mitarbeiter, Mitglieder und Familien reagierten mit einem „jetzt erst recht“ und gestalteten die Räume wunderschön und machten die dunklen, nicht wirklich kindgerechten Räume zu einem zweiten Zuhause für die Familien und Mitglieder. Wie in der Anfangszeit des Vereins wurde regelmäßig zusammen gekocht, diskutiert und gefeiert.“

Nach und nach schuf der Verein eine breite Angebotspalette. Mit der Erweiterung der Angebote wurde der bisherige Vereinsname „Verein für ausländische Kinder“ geändert und heißt seit 2002 „Kinder im Zentrum Gallus e.V.“ Er wollte damit seine Offenheit für alle Kinder und seine Verbundenheit mit dem Stadtteil Gallus auszudrücken.

Ganz neue Chancen ergaben sich 2007 durch den Umzug in das leerstehende alte Fabrikgebäude der Firma Braun. Bewunderungswürdig ist dabei der Mut des Vereinsvorstandes und der Geschäftsführerin, denn nunmehr standen 4000 qm zur Verfügung, die gestaltet und mit Leben gefüllt werden mussten. Neue Projekte mit neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entstanden.

Einige der neuen pädagogischen Angebote will ich hier aufzählen:

Schon seit vielen Jahren bemühte sich der Verein, ein Familienzentrum bzw. ein Mehrgenerationenhaus aufzubauen. Als das Bundesfamilienministerium die Förderung von Mehrgenerationenhäusern ausschrieb, bewarb sich der Verein und erhielt 2007 den Zuschlag. Zurecht ist der Verein stolz auf diese Anerkennung und das Zutrauen, „als kleine Migrantenselbstorganisation für die Stadt Frankfurt das erste Mehrgenerationenhaus aufbauen zu dürfen“, wie Ursula Werder schreibt.

Die Leistungsfähigkeit des Vereins und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist erstaunlich, denn schon ein Jahr später, 2008, wurde die Kita mit dem Schwerpunkt Musik eröffnet. Hierzu wurde auch eine enge Kooperation mit der Musikschule Frankfurt aufgebaut. Schrittweise wurde die Kita ausgebaut und bietet mittlerweile hundert Plätze in der Krippe, dem Kindergarten und dem Hort.

Eine weitere Besonderheit dieser Kita ist die arabisch-deutsche Gruppe; sie ist bundesweit die einzige Kita, die Hocharabisch und deutsch für interessierte Familien verschiedener sprachlicher Herkunft anbietet und dabei weltlich ausgerichtet ist.

Ebenfalls 2008 entstand das Familienrestaurant als Qualifizierungs- Begegnungs- und Versorgungsort für das Haus und den Stadtteil. Hier essen mittags die Hortkinder und ist Platz für interne und externe Veranstaltungen.

Schon vor etlichen Jahren haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Paradigmenwechsel vollzogen. Richtete sich früher das Augenmerk auf die Defizite eines Kindes, so werden jetzt seine Stärken und Fähigkeiten in den Vordergrund gerückt. Beispielhaft ist das Projekt „Kulturbrücke“, in der Volkshochschule und der Musikschule ein kulturelles Bildungsprogramm für den Stadtteil entwickeln. Dieses Projekt wird vom Jugend- und Sozialamt und dem Bildungsdezernat gefördert.

Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft: Erfolgreich war auch die Bewerbung im Rahmen des von der EU geförderten Programms „Bildung – Wirtschaft – Arbeit im Quartier“, in dem durch die Zusammenarbeit des Familienzentrums mit Wirtschaftsunternehmen im Stadtteil neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

Die außerordentliche und dynamische Entwicklung des Verein von den überaus bescheidenen Anfängen der Hausaufgabenhilfe bis hin zum Träger eines großen Mehrgenerationenhauses mit mehr als 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wirft die Frage auf, wie dieser enorme Erfolg zu erklären ist. Es ist wohl auf die produktive Zusammenarbeit des Vereinsvorstandes mit Ursula Werder als Geschäftsführerin und mit den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Ehrenamtlichen zurückzuführen. Mit Elan und pädagogischer Phantasie haben sie ihre Organisation weiter zu entwickelt. Durch ihre Vernetzung mit dem Stadtteil haben sie frühzeitig soziale Probleme erkannt und mit entsprechenden Angeboten reagiert. Ihr soziales Engagement war der Motor, der sie alle antrieb. Ich denke aber auch, dass es die Beharrlichkeit aller Beteiligten war, mit der sie an ihren Zielen festhielten und sich auch durch Widerstände nicht entmutigen ließen, die wesentlich zum Erfolg beigetragen hat.

Viele der erfolgreich durchgeführten Projekte werden nur für eine bestimmte Zeitspanne finanziert. Danach entsteht die Notwendigkeit, sich um eine Anschlussfinanzierung zu bemühen, es müssen also wieder Anträge geschrieben und Finanzierungsquellen ausfindig gemacht werden. Das erfordert Zeit und Kraft. Dem Mehrgenerationenhaus wünsche ich deshalb für die Zukunft stabile finanzielle Rahmenbedingungen.

Im Mehrgenerationenhaus hat sich ein Erfahrungsschatz angesammelt, der gerade im Hinblick auf die zu erwartenden Flüchtlinge außerordentlich wertvoll ist. Das Mehrgenerationenhaus ist gelebte Willkommenskultur, von der viele andere Organisationen lernen können.

So gratuliere ich herzlich zum 40jährigen Jubiläum, danke für die geleistete Arbeit und wünsche Ihnen weiterhin Schaffenskraft und Erfolg.