Wilma Aden-Grossmann: Studentenwohnheim Ginnheimer Landstraße 40 in Frankfurt

Ende der 1950er Jahre war es für Studierende in Frankfurt sehr schwierig, eine „Bude“ zu finden. Deshalb wurde ein großes Studentenwohnheim geplant und dafür sollte das ehemalige alte Krankenhaus in Bockenheim abgerissen werden. Da dieses einige Jahre dauern würde, beschloss der Leiter des Studentenwerks Günter Kallauch, in der Zwischenzeit das Gebäude als Studentenwohnheim zu nutzen. Man wollte aber nichts investieren und die Studierenden sollten alles in Selbstverwaltung regeln.

Zur Geschichte

Ursprünglich war in dem Gebäude Ginnheimer Landstraße 40 das alte „Bockenheimer Krankenhaus“; das dahinter liegende Gebäude Nr. 42 war das „Bockenheimer Armenhaus“.

Städtisches Krankenhaus 1874

Städtisches Krankenhaus 1874

Man nannte diese Einrichtung „Perlenfabrik“, weil hier Kinder einst Kunstperlen herstellten. 1920 übernahm der sehr fortschrittliche Frankfurter „Erziehungsverein“, der sich um wohnsitzlose, straffällig gewordene Jugendliche kümmerte, diesen Gebäudekomplex und errichtete das Erziehungsheim „Westendheim“:

Was seit zwanzig Jahren abgerissen werden sollte, renovierten die jungen, ins Getriebe der Zeit geratenen und hier eingewiesenen Männer, für die 100 Betten zur Verfügung standen. Sie ergänzten den vorhandenen Gebäudebestand außerdem südlich der Ginnheimer Landstraße mit einem Werkstättentrakt und bearbeiteten dort auch ein landwirtschafltiches Areal, dessen Ertrag der Heimverpflegung diente. Aufgenommen wurden hiesige Jugendliche und Heranwachsende, die vom Jugendamt, karitativen Vereinigungen, vom Untersuchungsgefängnis, vom Jugendgericht oder vom Landeshauptmann eingewiesen waren. 

Im Westendheim wollte man neue Wege der Sozialpädagogik gehen, Ideen verwirklichen, die namhafte Sozial- und Strafreformer wie Gustav Radbruch schon vor dem (1.) Weltkrieg formuliert hatten. Vor allem Jugendliche und erstmals straffällig gewordene …. sollten nicht ins Gefängnis gesteckt, sondern durch Arbeitstherapie bei relativ freizügiger Behandlung als nützliche Glieder der Gemeinschaft zurückgegeben werden. Sozialpädagogische und sozialpsychologische Behandlung, Unterricht, bei dem in Kindheit und Jugend Versäumtes nachvermittelt wurde, und auch Sport ergänzten die Arbeitstherapie. Ausgang in kleinen Gruppen war selbstverständlich. Die Arbeitstherapie wurde von vier Innungsmeistern geleitet, denen 16 Lehrgehilfen zur Seite standen. Leichter wurde es für diese als mit den Jahren ein Stamm von Freiwilligen aus der „Sozialistischen Arbeiterjugend sowie von den Naturfreunden sich zur regelmäßigen Mitarbeit bereitfand.“((Kurt Köhler: Die „Perlenfabrik in Bockenheim. Vom reformpädagogischen Erziehungsheim zum SA-KZ. Aus: Mitteilungsblatt des Vereins für Frankfurter Arbeitergeschichte. 2.Jg. 1986, Nr. 1, S.2)

Bereits Anfang der 30er Jahre wurde das pädagogisch fortschrittliche Heim zur Zielscheibe von Angriffen der Nazis. “Wo immer sich hierzu Gelegenheit bot, pöbelten Mitglieder der Nazi-Partei Freigänger an, um danach in ihrer Zeitung die von ihnen provozierten Zwischenfälle gegen solcherart sozialpädagogische Einrichtungen auszuspielen.“ (Köhler 1986, S. 2) Bezeichnend für ihre Polemik war ein Artikel mit der Überschrift „Knackis laufen Ski!“

Nachdem die Nazis und konservative Gruppierungen 1932 in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung die Mehrheit erhalten hatten, verweigerten sie die Mittel zur Fortführung der pädagogischen Arbeit und das Westendheim mußte geschlossen werden.

Die „Perlenfabrik“ wurde im 2. Weltkrieg vollständig zerstört. Nur der Keller und die Stufen vor dem Haus blieben erhalten.

SA-KZ „Perlenfabrik“

Mit der Machtübernahme der Nazis begann auch ein neues Kapitel der Ginnheimer Straße 40-42. Die SA übernahm den Gebäudekomplex, und gut ein Dutzend SA-Leute zogen ein. Von dort aus machte die SA „Jagd auf alle, die das Regime zu „Staatsfeinden“ erklärt hatte.

SA Gruppenschule

SA-Gruppenschule. Schild auf einem Pfosten am Eingang (Foto: W. Aden-Grossmann 1961)

In die Ginnheimer Straße wurden nunmehr alle verbracht, die in die Fänge der SA geraten waren und dort „verhört“. …. Den ersten Schub politischer Gegner hatte die „Perlenfabrik“ nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 und vom 5. März 1933 gesehen, ein weiterer Schub folgte nach der Besetzung der Gewerkschaftshäuser am 2. Mai 1933. Es ist unmöglich, alle beim Namen zu nennen, die in den Kellern der Ginnheimer Straße 40/42…. „verhört“ wurden.“ (Köhler 1986, S.4)

Während des Krieges wurde die „Perlenfabrik“ (Nr. 42) zerstört, und das nach dem Ende der Nazi-Herrschaft leerstehende Gebäude (Nr. 40) wurde etliche Jahre von der Firma Hako als Schuhlager genutzt. Schließlich übereignete es die Stadt Ende der 50er Jahre der Universität, die das Gebäude abreißen und an dieser Stelle ein modernes Stu­dentenwohnheim errichten wollte. Aber bis dahin war es

das Studentenwohnheim Ginnheimer Landstraße 40.

Bild

Studentenwohnheim Ginnheimer Landstr. 40 etwa 1961 (Foto Michael Vester)

In das nunmehr zum Studentenwohnheim umfunktionierte Gebäude zogen etwa 20 Studenten ein, die zwei Gruppierungen entstammten: zum einen waren es Mitglieder des Studententheaters „neue bühne“ und zum anderen Mitglieder des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund).

Die Räume wurden von den Bewohnern renoviert, wobei das Studentenwerk nur die Farbe stellte.

Aus dem Alltag

Da das Studentenwerk weder Hausmeister noch Putzfrauen stellte, mußten wir unsere Angelegenheiten selbst regeln und verwalten..

Alle wesentlichen Entscheidungen wurden von der Vollversammlung getroffen. Diese entschied über die Aufnahme neuer Bewohner, legte den Plan für das umschichtige Heizen und Schneefegen sowie die Höhe der Umlagen für Heizung, Müllabfuhr und Strom fest. Jeder mußte 10.– DM Miete an das Studentenwerk bezahlen, und die monatliche Umlage betrug zunächst 10.– DM, stieg aber allmählich auf 30.–DM. pro Person.

1960 zogen mein Mann Heinz Grossmann und ich mit unserer kleinen Tochter ein. Wir waren froh, dass wir zwei Zimmer bekamen. Toilette und Dusche mussten wir uns mit den anderen Studenten unserer Etage teilen. Im Flur richteten wir uns eine Küche ein. Somit hatten wir zwar keine abgeschlossenen Wohnung, aber alles, was wir brauchten. Wir studierten beide, was damals sehr ungewöhnlich war, denn es gab nur sehr wenige Frauen, die auch nach der Geburt eines Kindes ihr Studium fortsetzten.

Auf dem Hof. Die Kinder Pascal, Ulrike,  Wilma Aden-Grossmann, Ursula Jaerisch, Thomas Leithäuser

Auf dem Hof. Die Kinder Pascal, Ulrike,  Wilma Aden-Grossmann, Ursula Jaerisch, Thomas Leithäuser  (Foto W. Aden-Grossmann)

Zunächst war unsere Tochter das einzige Kind in dem von etwa 30 Studierenden bewohnten Studentenheim. Aber bald schon kam das Ehepaar Lamche mit zwei Kleinkindern hinzu und der Tutorenehepaar Rainer und Emma Zoll bekamen in dieser Zeit ihren ersten Sohn.

Jürgen Schaltenbrand, Eberhard Dähne, Michael Schumann (Foto W. Aden-Grossmann)

Jürgen Schaltenbrand, Eberhard Dähne, Michael Schumann

Die Selbstverwaltung des Hauses klappte nicht immer. Das umschichtige Heizen der alten Dampfheizung mit Koks brachte viel Ärger, denn die einen heizten erst mittags und man fror den ganzen Vormittag, andere heizten dafür nachts um 3 Uhr, und wir konnten, da man den Heizkörper nicht regulieren konnte, vor Hitze kaum schlafen.

 

Politische Aktivitäten

Das Studentenwohnheim war ein in der linken Szene beliebter Treffpunkt, und eine Reihe von politischen Aktivitäten gingen von seinen Bewohnern und Bewohnerinnen aus. So wohnten der Bundesvorsitzende des SDS Michael Schumann und sein Stellvertreter Michael Vester, der ungezählte Rundschreiben und Pressemitteilungen verfaßte, im Hause.

In der „Ginnheimer Landstraße“ – wie das Studentenwohnheim in Ermangelung eines Eigennamens genannt wurde – wohnten auch einige Studenten, die ihre Heimatländer aus politischen Gründern verlassen mußten wie der Pariser Rolland Routisseau, der der Jeune Resistance angehörte und der Portugiese Joaquim da Silveira, der verfolgt wurde, weil er in der damaligen Militärdiktatur seines Heimatlandes keinen Wehrdienst ableisten wollte.

Dort fanden auch Redaktionssitzungen der neuen kritik statt, der Zeitschrift des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, deren erste Nummer am 1. März 1960 erschien mit dem Themenschwerpunkt Hochschulpolitik. Die Redaktionsleitung hatte Peter Märthesheimer übernommen. Aufsehen erregten das von Ann Lamsche entworfene quadratische Format der Zeitschrift und das am Bauhaus-Stil orientierte Layout. Diese Nummer enthielt u.a. Beiträge der folgenden Studentenheimbewohner:

  • Kay Tjaden: Hinein in den Elfenbeinturm!

  • Michael Schumann: Trugbild

  • Heinz Grossmann: Aufruf zum Widerstand

  • Peter Märthesheimer: Provokation

In der Redaktion des express international, herausgegeben von der Gesellschaft für internationale Forschung und internationale Kooperation auf dem Gebiet der Publizistik, war man an Zusammenarbeit mit Gewerkschaftlern und der Reflexion internationaler Entwicklungen interessiert.

Hier engagierten sich vor allem Rainer Zoll, Jürgen Schaltenbrand und Rita Harmuth, die die druckfertigen Manuskripte auf einer elektrischen IBM-Schreibmaschine herstellte – eine mühselige Arbeit, die man sich heute im Zeitalter des PC kaum noch vorstellen kann.

Die neue bühne

Einige Studentinnen und Studenten engagierten sich in dem avangardistischen Studententheater „neue bühne“. Es wurden in diesen Jahren – eine genaue Rekonstruktion ist mir leider nicht gelungen – u.a. die. folgenden Stücke aufgeführt:

  • Alfred Jarry: König UBU
  • J-M.R. Lenz: Die neue Menuza
  • Nelly Sachs: Eli

Als Schauspieler wirkten Ursula Jaerisch, Andreas Kappos, Thomas Leithäuser, Wolfgang Nern und sein Freund Uli Popp mit. Jörg Madlener hat das Bühnenbild für „Eli“ gemalt und Emma Zoll nähte Kostümer und beschaffte die Requisiten. Die gut besuchten Aufführungen fanden im großen Saal des Studentenhauses statt, der auch eine Bühne hatte.

Das Ende der Ginnheimer Landstraße

Bereits 1963 kündigte sich an, daß die Universität ihre Baupläne vorangetrieben hatte und der Zeitpunkt, an dem das Gebäude dem neuen, zehngeschossigen Studentenwohnheim weichen mußte, rückte näher. Einige, wie auch Heinz und ich, zogen im Somer 1963 aus. Für viele war dieses Studentenwohnheim zum Ort eines selbstbestimmten Zusammenlebens geworden, um dessen Fortbestand sie – allerdings vergeblich – kämpften. Um auch die letzten Bewohner zum Auszug zu zwingen, wurde der Strom und schließlich auch das Wasser abgestellt. Damit war ein weiteres Wohnen dort unmöglich und auch die letzten verließen das Haus.

Das Gebäude stand dann etwa zwei Jahre leer, ehe es abgerissen wurde.

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Ich danke Gabriele und Dr. Karl-Heinz Braun (ehemals „neue bühne“) für ihre Auskünfte und Dr. Michael Fleiter, Stadtarchiv Frankfurt, für die Fotos vom Bockenheimer Krankenhaus und der „Perlenfabrik“.