Vortrag auf der Veranstaltung zum 100. Geburtstag von Berthold Simonsohn der Goethe-Universität, Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaften am 24. April 2012 um 19 Uhr, Casino Westend. Der Vortrag wurde veröffentlicht in: Micha Brumlik und Benjamin Ortmeyer (Hrsg.): 100 Jahre Berthold simonsohn. Dokumention der Festveranstaltung. Frankfurt: Protagoras Academicus, 2012, S- 21-29 ISBN 978-3-943059-04-5
Liebe Trude Simonsohn, sehr geehrte Damen und Herren,
zunächst möchte ich dem Fachbereich Erziehungswissenschaften sowie den Kollegen Benjamin Ortmeyer und Micha Brumlik sehr herzlich danken, dass mit dieser Veranstaltung an das Wirken Berthold Simonsohns an der J. W. Goethe-Universität erinnert und sein wissenschaftliches Werk gewürdigt wird.
Mit Berthold Simonsohn wurde 1962 ein Mann auf die Professur für Sozialpädagogik und Jugendrecht berufen mit einem ungewöhnlichen Lebensweg. Er verfügte über umfangreiche praktische Erfahrungen in der jüdischen Jugend- und Sozialarbeit seit 1936, bis er selbst indas Ghetto Theresienstadt deportiert wurde und dort als stellvertretender Leiter der Jugendfürsorge in der jüdischen Selbstverwaltung arbeitet. 1952 gründete der die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, die er zehn Jahre lang leitete.
Durch sein Studium der Rechtswissenschaften und der Staatswissenschaften (Volkswirtschaftslehre, Soziologie, Geschichte) an den Universitäten Halle, Leipzig und Zürich, durch die intensive Beschäftigung mit der Psychoanalyse und der Geschichte der Sozialpädagogik verfügte er über ein außergewöhnliches wissenschaftliches Profil. Betrachten wir seine Schriften und sein sozialpolitisches Wirken auf dem Gebiet des Jugendrechts und der Jugendkriminalität, so ist festzustellen, dass seine Schriften auch nach fast 40 Jahren immer noch aktuell sind und seine Forderungen nach einer Reform des Jugendstrafrechts nur erst in Ansätzen verwirklicht wurden.
Zum Verständnis seiner Theorie muss man wissen, dass er keinen grundlegenden Unterschied zwischen Jugendkriminalität und Jugendverwahrlosung machte, weil beiden Verhaltensformen eine Fehlentwicklung zugrunde liegt. Angemessener als der Begriff Jugendkriminalität sei der Begriff der Jugenddelinquenz, der im angelsächsischen Sprachbereich wie auch in den skandinavischen und romanischen Ländern verwendet werde und beide Aspekte umfasse, den der Kriminalität und der Verwahrlosung. Man versteht „darunter jegliches sozial auffällige Verhalten, ob es strafrechtlich verfolgt wird oder nur moralisch verurteilt und Anlaß für pädagogische und soziale Maßnahmen bietet.“1 Eine Ausnahme stelle nur der Tatbestand der Schwerkriminalität dar.
Simonsohn stellte in einer historischen und international vergleichenden Abhandlung den Zusammenhang zwischen der gesellschaftspolitischen Situation und dem Ausmaß der Jugendkriminalität als einer möglichen Reaktion darauf dar. Dabei zeigte es sich in allen westeuropäischen Länder, dass in den Kriegsjahren und der Nachkriegszeit die Jugendkriminalität stark gestiegen war. Die Abwesenheit des Vaters durch Kriegsdienst und Gefangenschaft und häufig auch der voll berufstätigen Mutter machten sich hier bemerkbar. Hinzu käme aber, dass die „ganze Atmosphäre des auf gegenseitiges Morden zielenden Krieges die Domestikation des Aggressionstriebes erschwert und die primitiven Schichten des Menschen mobilisiert. Das Heraussreissen vieler, gegen Ende des Krieges oft sehr junger Menschen aus ihrem bisherigen Milieu der Geborgenheit in den Wehrdienst, Vertreibung, Umsiedlung, Flucht großer Teile der Bevölkerung in den vom Krieg betroffenen Gebieten führen zu einer Lockerung der Hemmungen, der Moral. Die Verketzerung des Feindes legitimiert viele Gewalttaten und verwirrt die Begriffe von Recht und Unrecht.
Sein Fazit ist, dass dissoziale und neurotische Fehlentwicklungen unter solchen gesellschaftlichen Bedingungen zunehmen. Dass sich das Ausmaß an Gewalt und Bindungslosigkeit bei einem Teil der jungen Generation erhöht, sei in allen hochindustrialisierten Staaten zu beobachten und stünde in einem direkten Zusammenhang mit der Entwicklung der Gesellschaftsstruktur. Das Fehlen von bindenden und allgemein anerkannten Wertvorstellungen und die immer längeren Ausbildungszeiten führten in wachsendem Maß zu Widersprüchen zwischen den Wünschen des Jugendlichen und seiner tatsächlichen sozialen Situation, die deren Befriedigung nicht zuließe. Daraus entstünden Trotzeinstellungen und in deren Folge die typischen Jugendverfehlungen, „die durch impulsives, situationsbedingtes Handeln, mangelnde Planung, Mißverhältnis zwischen Einsatz und Ergebnis, Anlass und Erfolg gekennzeichnet sind.“ Simonsohn deutete diesen Vandalismus als ein Charkteristikum „für die missglückte Einordnung junger Menschen in einen, ihre elementarsten Bedürfnisse unbefriedigt lassenden gesellschaftlichen Entwicklungsprozess.“2
Ein Merkmal der Kinder- und Jugendkriminalität ist es, dass etwa die Hälfte aller Straftaten gemeinschaftlich begangen würden, wobei der Zusammenschluss meist nicht kriminelle Akte bezweckt, sondern der Befriedigung von Erlebnishunger und körperlicher Aktivität diene. Durch das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit entstünden Gefolgschaftstreue und eine Schwächung des Rechtsbewusstseins. Vor allem in den sozialen Brennpunkten der Großstädte habe sich eine Subkultur der Banden entwickelt, in der junge Menschen, die ihre Umwelt ablehnen, ja hassen, „ihre Unsicherheit durch gemeinsame aggressive Unternehmungen überwinden und eine ‚Ersatzheimat’ finden.“ 3
Um die Ursachen der Jugendkriminalität zu erforschen, bedarf es nach Simonsohn eines interdiszipinären Ansatzes, wobei das delinquente Verhalten aus dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren wie biologischer, soziologischer und psychologischer Art interpretiert werden müsse. Simonsohn wollte die Trennung in Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften überwinden. Wir fassen dies heute unter dem Begriff der Humanwissenschaft zusammen.
Die Gründe für die wachsende Jugendkriminalität und Verwahrlosung sah Simonsohn auch in dem „gewaltigen Wandel“ der Gesellschaft, was dazu geführt hätte, „daß das, was der Mensch so notwendig wie das tägliche Brot braucht, das Gefühl der Geborgenheit, der Freude, der Selbstachtung, der Verbundenheit mit anderen Menschen immer mehr verlorengeht, daß physische Kräfte, die durch körperliche Arbeit und soziale Handlungen gebunden und sublimiert wurden, jetzt frei werden und sich in aggressiven Akten und sexueller Hemmungslosigkeit einen Ausweg, eine Ersatzbefriedigung suchen und doch nicht finden.“ 4
Dabei trat Simonsohn der Auffassung vieler Juristen entgegen, dass der Mensch sich frei für das Gute oder das Böse entscheiden könnte, sondern dass man gemäß der psychoanalytischen Theorie, „nicht bei den Taten und Verhaltensweisen stehen bleiben dürfe, sondern die unbewußten Motive und seelischen Abläufe erforschen müsse, die zu den dissozialen Äußerungen führen. Diese seien weder zufällig noch willentlich gesteuert, sondern das Ergebnis mit- und gegeneinander wirkender Kräfte.“5
Simonsohn unterschied zwischen der Jugendverwahrlosung, die häufig eine Vorstufe zur Kriminalität sei, und den Straftaten, „die in den Wirren der Pubertät begangen werden und mehr oder weniger Zufälligkeitscharakter tragen. … Andererseits sind bestimmte Formen der Verwahrlosung … häufig Ausdruck tiefgehender Störungen und nur die Vorstufe für kriminelle Handlungen.“ 6
In Simonsohns theoretischem Ansatz spielen die Umweltfaktoren, die Lebensumstände, in denen ein Kind heranwächst wie auch die Erziehungsstile eine bedeutsame Rolle. Der damals statistisch nachweisbare Zusammenhang der besonderen Gefährdung von Kindern aus „unvollständigen“ Familien, die als defizitär angesehen wurden, sowie von unehelichen Kindern, besteht heute nicht mehr, weil 1970 durch eine Gesetzesänderung Diskriminierungen beseitigt und sie den ehelichen Kindern gleichgestellt wurden was auch Simonsohn gefordert hatte. Hinzu kommt, dass die Einstellung der Gesellschaft zur unehelichen bzw. vorehelichen Geburt sich grundlegend verändert hat. Wohl aber ist die Herkunft aus schwierigen, sozial benachteiligten Familien nach wie vor ein bedeutender Faktor für die Sozialisation.
Simonsohn betonte die Bedeutung der frühen Kindheit und dass man frühzeitig bei beginnender Fehlentwicklung mit pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen eingreifen müsse. Dissozialität verstand Simonsohn als missglückte Sozialisation, und dissoziale Jugendliche betrachtete er als Opfer falscher Erziehungspraktiken und unmenschlicher Lebensbedingungen. Sie sind „Unglückliche, Benachteiligte und Hilfsbedürftige“, deren Taten die Rache für erlebte Lieblosigkeiten seien. Strafen seien folglich nicht angebracht, weil diese die Jugendlichen diskriminierten und ihnen damit den Rückweg in die Gesellschaft verlegten und sie „in den Teufelskreis des Immer-Wieder-Rükfälligwerdens und in die Rolle des Sündenbocks hineindrängen.“7. Angesichts der hohen Rückfallquoten müssten die Juristen die Sinnlosigkeit ihres Tuns erkennen und anstelle der wirkungslosen Bestrafung etwas Besseres setzen, nämlich erzieherische und therapeutische Maßnahmen.
Diese Feststellungen von der Sinnlosigkeit des Jugendstrafvollzugs sind auch heute noch 40 Jahre später leider immer noch aktuell. So bezeichnet der Kriminologe Professor Christian Pfeiffer den Jugendarrest mit Rückfallquoten von 70 Prozent als weitgehend unwirksam. Kontraproduktiv für Prävention und Resozialisierung war es auch, dass die Landesregierung in der Amtszeit von Roland Koch sämtliche Landeszuschüsse für ambulante Maßnahmen zur Wiedereingliederung straffälliger Jugendlicher gestrichen hat.
Simonsohn plädierte für die Abschaffung des Jugendstrafrechts und seine Eingliederung in ein reformiertes Jugendhilfegesetz. In seinem pädagogischen Denken war er radikal, aber in seinem sozialpolitischen Handeln ein Realist. Er rechnete von vorne herein mit Widerständen und Abwehr, wenn es darum ging, die eingefahrenen Wege, Gewohnheiten und Vorurteile bei der Masse der Bevölkerung und auch bei Juristen zu überwinden, um das als richtig Erkannte umzusetzen. Auch die Erkenntnis, dass dies nur in kleinen Schritten möglich sein würde und eine mühevolle, nicht nachlassende Aufklärungsarbeit erforderte, entmutigte ihn nicht. Insgesamt hat er etwa fünfzehn Jahre seines Lebens sich dieser Aufgabe gewidmet.
Wir erleben heute immer wieder Gewaltakte, brutales Zuschlagen des Täters auf sein wehrloses Opfer in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf der Straße und fragen uns, wie ist dieses Ausmaß an Gewalt und Aggression zu erklären. Eine einfache Antwort hierauf finden wir bei Simonsohn nicht, aber doch einige mögliche Erklärungen.
Simonsohn nimmt an, dass die Aggression ein Urtrieb ist, der aber in seinem Ausmaß und seiner Richtung von sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen abhängt. Durch Sublimierung könne die Aggression in dynamische Kräfte für die Gesellschaft umgewandelt werden. Dies sei aber kein kontinuierlich fortschreitender Prozess, denn Rückfälle könnten das erreichte Stadium der Sublimierung zunichte machen.
Simonsohn vertrat die Ansicht, dass der Destruktionstrieb nicht ein Teil der menschlichen Natur sondern dass die Aggression eine Erscheinungsform unter bestimmten kulturellen Bedingungen ist. In der bisherigen Geschichte der Menschheit konnte ein Teil der aggressiven Kräfte durch Sublimierung gebunden werden, aber es bliebe ein Reservoir aggressiver Bestrebungen, das unter dem Druck der Gesellschaft verdrängt, damit aber noch nicht eliminiert würde. „Wo die Kräfte, die die Verdrängung bewirken, aus irgend einem Grunde schwach werden, brechen sie mit Gewalt wieder durch, zum Beispiel wenn die Staatsgewalt nach einem verlorenen Krieg oder durch Krisen desorganisiert ist, dann tritt eine dem Dammbruch vergleichbare Situation ein, und der Aggressionsüberschuß erscheint als Destruktionstrieb für die einen, als Motor der Geschichte für die anderen.“ 8
Eine wesentliche Rolle für die Beherrschung der Aggression spielte in der Vergangenheit deren Umlenkung in Arbeitsleistung. Da die Arbeit jedoch „seelenloser, unbefriedigender“, geworden sei, würden die affektiven Kräfte kaum noch benötigt, so dass die Arbeit nicht mehr die gleiche Wirkung habe. Eine Form der Bewältigung sei die Projektion auf Objekte der Außenwelt. „Die Aggression entlädt sich im Haß gegen Andersartige, sie wird legitimiert, indem der andere verteufelt und mit all den Eigenschaften ausgestattet wird, die man an sich selbst für unerwünscht und gefährlich hält.“ 9 Bei den Gruppen der sozial Benachteiligten und der Diskriminierten zeigte sich aufgrund ihres geringen Status eine Tendenz zur Destruktivität.
Simonsohn zeigt auf, dass dies nicht zwangweise so sein müsse, sondern es auch andere, politische Wege gebe, die Aggression in konstruktive Bahnen zu lenken und nennt als Beispiele: „das Klassenbewußtsein des Arbeiters in früheren Jahrzehnten war ein wirksames Gegenmittel, in dem die Aggressivität im Aufbau politischer Gegenkräfte mit dem Ziel einer besseren Zukunft gebunden wurde. Rassische und religiöse Minoritäten können ein sehr starkes Selbstbewußtsein entwickeln, wobei große Opfer und gewaltige Leistungen mit Begeisterung erbracht werden. Beispiele dafür sind der Zionismus, der Aufbau des Staates Israel, oder der Kampf der Neger in den Vereinigten Staaten um ihre Bürgerrechte. 10
Da die Aggression nicht abgebaut werden könne, komme der Erziehung die Aufgabe zu, durch die Entwicklung neuer Methoden, durch Triebbefreiung und Schaffung eines affektiv befriedigenden Klimas die Aggression in eine für die Gesellschaft und den Einzelnen positive Kraft umzuwandeln. „Das bedeutet Beherrschung des Erziehungsprozesses durch tiefenpsychologisch fundierte Pädagogik vom Kleinkind an, es bedeutet Beherrschung des gesellschaftlichen Prozesses durch richtige Politik.11
Simonsohn trat dafür ein, das Jugenstrafrecht aus dem „Dunstkreis der Strafjustiz“ zu lösen und in das Jugendhilferecht zu integrieren. „Alle Wissenschaften vom Menschen … gehen heute von der Gefährdung des jungen Menschen durch unsere gesellschaftliche Ordnung und Lebensbedingungen und den dadurch bedingten Störungen aus – und nicht von Tat und Tatfolgen und der danach zu bemessenden ‚Schuld’. Selbstgerechtigkeit und Interesse der Herrschenden an Ablenkung von den wirklichen Ursachen verbinden sich hier mit den Verdrängungs- und Projektionsmechanismen der breiten Masse und selbst der Betroffenen, so daß es außerordentlicher Anstrengung bedarf, die Mauern des verfestigten Vorurteils, das nach ‚härterem Durchgreifen’ verlangt, zu durchbrechen.“ 12 Denn um der steigenden Jugendkriminalität entgegenzuwirken, müsse man den ganzen Bereich der Erziehung und der Jugendhilfe in den Blick nehmen, denn Jugendverwahrlosung und der Jugendkriminalität nur verschiedene Erscheinungsformen eines Erziehungsnotstandes, und insofern sei die Spaltung in Jugendwohlfahrtsgesetz einerseit und Jugendgerichtsgesetz andererseits höchst unzweckmäßig.
1970 schien der politische Rahmen für Reformen durchaus günstig. Kurz zuvor hatte der Bundestag Willy Brand zum Kanzler gewählt, der in seiner Regierungserklärung ein umfangreiches Reformprogramm ankündigte, zu dessen Schwerpunkten u. a. ie Reform der Rechtspflege und des Zivil- und Strafrechts zählte. Zudem hatte sich das gesellschaftliche Klima gewandelt, und eine junge Generation setzte sich mit den tradierten Werten der Gesellschaft auseinander, deren Erziehungsinstitutionen noch geprägt waren von autoritären Praktiken. Auch in der Fachöffentlichkeit begann eine kritische Auseinanersetzung mit der Fürsorgeerziehung und dem Jugendstrafvollzug. Aber der Schwung ließ schon bald nach und der Reformprozess stagnierte.
Die kritikwürdigen Zustände in vielen Einrichtungen der Sozialpädagogik beruhten nach Simonsohns Überzeugung vor allem in dem Mangel an gut qualifizierten Fachkräften.
Daher befasste er sich eingehend mit einer Reform der sozialpädagogischen Ausbildung und trat für ein interdisziplinäres Studium an Universitäten ein.
1967 hielt er einen Vortrag mit dem Thema „Zum Problem der akademischen Ausbildung auf dem Gebiet der Sozialpädagogik“, dem er folgendes Motto von Erasmus voranstellte: „Was ist Charitas ohne Wissenschaft? Sie wäre ein Schiff ohne Steuer“.
In diesem Vortrag begründete Simonsohn die dringende Notwendigkeit einer akademischen, wissenschaftlich fundierten Ausbildung für Sozialpädagogen und Sozialarbeiter. Dabei war er nicht der erste, der diese forderte. Vergeblich hatte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts namhafte Pädagogen wie z.B. Karl Wilker eine wissenschaftliche Ausbildung für Sozialpädagogen und Sozialarbeiter gefordert. An der Frankfurter Universität hatte Christian J. Klumker ein Institut für „Fürsorgewesen und Jugendhilfe“ gegründet, das bis 1959 zuletzt unter der Leitung von Professor Hans Scherpner bestand. Aber es gab auch dort keinen eigenständigen Studiengang. In seinem Vortrag knüpfte Simonsohn an diese Tradition an, und forderte die Einrichtung eines eigenständigen sozialpädagogischen Studienganges, der auf Forschung und Lehre ausgerichtet sein müsste.
Im Folgenden wird ein längerer Abschnitt aus einem Vortrag von Berthold Simonsohn zitiert, den der Hessische Rundfunk am 14. August 1967 gesendet hat.
„Liest man die Aufsätze Wilkers, Nohls, Klumkers und anderer, die vor vier, fünf Jahrzehnten geschrieben wurden, so kann man nur immer wieder feststellen, dass damals eigentlich schon nahezu alles gesagt wurde, was zu diesem Thema gesagt werden kann – und dass wir seitdem kaum weitergekommen sind. Übereinstimmend wird betont, dass die Sozialpädagogik in keines unserer akademischen Fächer hineinpasst, sondern »die Grenzen mehrerer von ihnen durchschneidet« (Klumker). Er sagt – wie vor ihm Wilker, der schon 1911 einen Aufbauplan für eine pädagogische Fakultät entworfen hat -, dass »eben Fürsorge in allen Formen ein Stück Erziehung einschließt«. Das ist um so beachtlicher, als er ja im Rahmen einer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät wirkte, wo sich seine Sicht des Problems nie durchsetzen konnte. Deshalb auch erkannte er bald, dass ein solches Studium . . . »nicht nebenbei in einen anderen Bildungsgang hineingedrängt werden« kann und »dass der zukünftige Fürsorger Wissen und Kenntnisse« sich »überall besser und sicherer verschaffen kann als im Rahmen des akademischen Lehrbetriebs«.
Von daher auch die Bedenken, die Alice Salomon gegen die akademische Ausbildung äußert. Wenn sie 1929 noch betont, dass die Universitäten die besondere Ausrüstung für die sozialen Aufgaben gar nicht geben können, andererseits die Notwendigkeit einer hochschulartigen Schulung für die Aufgabe der Leitung großer Ämter und Vereine klar erkennt, so hat sie in der damaligen Situation durchaus recht, wenn sie die Lösung in einer Fortbildungsakademie sieht. Das Selbstverständnis der Universitäten als Stätten reiner Wissenschaft im Sinn Humboldts ist längst ins Wanken geraten; es gibt Ansätze, die Isolierung und Spezialisierung der Wissenschaften zu überwinden, sie auf die Totalität des Menschen in seiner leib-seelischen, wirtschaftlich-sozial-kulturellen Bedingtheit zu beziehen, in Verbindung zu bringen und auch auf praktische und methodische Probleme der sozialen Arbeit auszurichten. Die Universität dient in fast allen Fakultäten nicht mehr nur dem Erkennen ohne jeden Bezug auf das Handeln. Und die soziale Arbeit ist nicht nur auf Handeln gerichtet, das ohne wissenschaftliche Erkenntnis und Forschung die äußeren Umstände gestalten und die innere Entwicklung des Menschen zu beeinflussen vermag. Mit Recht hebt sie hervor, dass alles, was Kultusminister Becker damals über die Notwendigkeit eigenständiger pädagogischer Akademien sagt, in gleichem Maß für eine vertiefte und geistige Durchdringung der sozialen Berufe zutrifft. Aber die Entwicklung ist auch hier über die Akademie längst hinausgegangen, hat zur Pädagogischen Hochschule und zu deren immer enger werdenden Bindung an die Universität bis zur Vollintegrierung geführt und die einheitliche pädagogische Fakultät für alle Lehr- und Erziehungsberufe auf die Tagesordnung gebracht. Aber vom traditionellen und keineswegs heute schon überholten Bild der Universität her kommt es immer noch zu einer resignierten Selbstbescheidung, die zu Teillösungen wie dem der Akademien (Deutscher Verein, Gollancz-Stiftung) oder zu Vorschlägen führt, Institute in Verbindung mit der Universität (Bondy) oder gar als selbständige Sozialpädagogische Hochschulen (Hasenclever) zu schaffen.
Nach meiner Überzeugung wären dies Lösungen, die von der Entwicklung bereits überholt sind. Die Universität selbst befindet sich in einem Wandel ihres Selbstverständnisses, der Anpassung ihrer Ausbildungsmethoden auf die Bedürfnisse der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Zusammenarbeit über die Fakultätsgrenzen hinweg in interfakultären Instituten steht auf der Tagesordnung, sie wird vom Wissenschaftsrat gefordert. Darin liegt die Chance für die Sozialpädagogik!“ 13
1969, zwei Jahre später zeigte sich der Erfolg von Simonsohns jahrelangem Bemühen: An der Frankfurter Universität wurde der Pädagogik-Studiengang mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik eingerichtet, dessen Konzeption im Wesentlichen von Berthold Simonsohn erarbeitet worden war. Entgegen skeptischen Auffassungen hat sich der neue Studiengang bewährt und die akademisch ausgebildeten Sozialpädagogen haben sich erfolgreich durchgesetzt.
Literatur
Aden-Grossmann, Wilma (Hrsg.): Berthold Simonsohn: Ausgewählte Schriften 1934-1977, Kassel 2012
Aden-Grossmann, Wilma: Berthold Simonsohn – Biographie des jüdischen Sozialpädagogen und Juristen (1912-1978)
1Simonsohn, B.: Jugendkriminalität. In: Aden-Grossmann, W. (Hrsg.): Berthold Simonsohn: Ausgewählte Schriften. Kassel 2012, S. 143
2Simonsohn, B.: Jugendkriminalität. In: Aden-Grossman 2012, S.146
3 Ebd., S. 147
4Simonsohn, B.: Der junge Mensch vor Gericht. AW-Sozialarbeitertreffen 1964 in Berlin. Hrsg. von der Arbeiterwohlfahrt Hauptausschuss e. V., Bonn 1964, S. 18
5 Simonsohn, B.: Der Beitrag der Psychoanalyse zum Problem der Jugendkriminalität und des Jugendstrafrechts. In: Aden-Grossmann 2012, S. 114
6 Ebd.
7 Simonsohn, B.: Der Beitrag der Psychoanalyse zum Problem der Jugendkriminalität und des Jugendstrafrechts. In: Aden-Grossmann 2012, S. 118
8Simonsohn, B.: Die Aggression als soziales un erzieherisches Problem. In: Aden-Grossmann 2012, 128
9Ebd., S. 129
10Ebd., S.130
11Ebd., S. 133
12Simonsohn, B.: Jugendstrafrecht und Jugendhilferecht – ihr Verhältnis im neuen Entwurf eine Jugendhilfegesetzes. In: Neue Praxis. Sonderheft „kritik am Diskussionsentwurf eines neuen Jugendhilfegesetzes. 1973, S. 99
13Simonsohn, B.: Zum Problem der akademischen Ausbildung auf dem Gebiet der sozialpädagogik. In: Aden-Grossmann 2012, S. 163-178