Wilma Aden-Grossmann: Karen Siemsen – Portrait einer jüdischen Sozialpädagogin

Während meiner Arbeit an der Biographie von Prof. Dr. Berthold Simonsohn1 machte ich 1994 die Bekanntschaft mit seiner verwitweten Schwägerin Karen Siemsen, die mit Carl2, dem älteren Bruder von Berthold Simonsohn, verheiratet war. In mehreren langen Gesprächen erzählte sie von ihren Erfahrungen in der sozialpädagogischen Arbeit vor 1933 und von ihrer Emigration nach Palästina. Ihr Schicksal als verfolgte Jüdin berührte mich, und ihre sozialpädagogischen Erfahrungen in der Kinder- und Jugendarbeit vor 1933, die ihre Wurzeln in der fortschrittlichen Sozialpädagogik der Weimarer Republik einerseits und in der zionistischen Jugendbewegung andererseits hatten, faszinierten mich. Sie repräsentiert einen Zweig der sozialpädagogischen Tradition, deren Vertreter durch die Nationalsozialisten bekämpft, aus Deutschland vertrieben oder ermordet wurden.  So entschloß ich mich, eine Skizze ihres Lebensweges zu verfassen.

Fredensborg, August 1998

Wenn du heute nachmittag nach Humlebek ins Louisiana1 fährst, so nimm doch bitte das Plakat für die Gesundheitswoche mit und bitte die Frauen dort, es aufzuhängen. Das machen sie bestimmt, man kennt mich dort.“ Karen Siemsen drückte mir das quittegelbe Plakat in die Hand, das für die Gesundheitswoche 1998 im dänischen Städtchen Fredensborg wirbt, zu deren Initiatorinnen sie gehörte.

Jedes Jahr wandern die Teilnehmer und Teilnehmerinnen gemeinsam zu dem abgelegenen Hotel, in dem die Gesundheitswoche dann mit Gymnastik und Spielen eröffnet wird. In diesem Jahr konnte Karen Siemsen die Wanderung nicht mitmachen, denn seit ihrer letzten Krankheit ermüdet die schlanke 85jäh­rige schnell. Dennoch hat sie wie in jedem Jahr eine Veranstaltung zu Naturheilverfahren moderiert.

Seit vielen Jahren schon setzt sich Karen Siemsen für eine präventive Gesundheitspolitik ein, weil diese dem Einzelnen zugute käme und zudem Kosten im Gesundheitssystem eingespart werden könnten. Sie kritisiert, daß gesundheitserhaltende und präventive Maßnahmen sowohl in Deutschland als auch in Dänemark zu wenig Beachtung geschenkt würde. Nachdem sie vor etwa 30 Jahren für sich selbst die positiven Wirkungen von Naturheilverfahren, insbesondere von Kneipp-Kuren entdeckte, hat sie, die gelernte Krankenschwester, sich regelmäßig fortgebildet und gilt daher in Dänemark als Expertin.

Trotz ihres hohen Alters und einer chronischen Krankheit – sie hat durch eine schwere Krankheit (Flecktyphus) in der Jugend einen Herz- und Leberschaden erlitten -, versorgt sie sich selbst, erledigt ihre Einkäufe mit dem Rucksack, hält öffentliche Vorträge über präventive Gesundheitspolitik und Naturheilverfahren und versucht, die in Dänemark nur wenig bekannte Kneipp-Methode zu verbreiten.

Die gebürtige Hamburgerin lebt seit fast 40 Jahren in Fredensborg, einem beschaulichen Ort nordwestlich von Kopenhagen, dessen besondere Attraktion das im 18. Jahrhundert erbaute Schloß ist, in dem die Königsfamilie regelmäßig im Spätsommer wohnt. Sehr oft geht Karen Siemsen in dem großen Schloßpark spazieren. und bedauert es, daß die Bewohner Fredensborgs ihn so wenig nutzen. Karen aber, die viele Jahre in Palästina gelebt hat – hierüber wird noch zu berichten sein – genießt das saftige Grün der Wiesen und den hohen Wuchs der Bäume stets aufs Neue. Trotzdem mag sie das herbe Klima mit den kurzen, regenreichen Sommern und den langen Wintern nicht und verbringt in jedem Jahr einige Zeit in ihrer kleinen und sehr schlichten Ferienwohnung in der Schweiz.

Die Sozialpädagogin

Karen Siemsen, geboren 1913 in Hamburg, hat in ihrem Leben als Sozialpädagogin in sehr unterschiedlichen Einrichtungen gearbeitet: in der jüdischen Jugendfürsorge und in einer Kindertagesstätte für proletarische Kinder in Berlin, im Kinderheim Herrlingen bei Ulm und im Kibbuz in Palästina. Ihr besonderes Interesse galt vor allem Kindern und Jugendlichen, die ohne Familie heranwuchsen und daher oft besonders schwierig waren. Auch Jugendlichen, die die Verfolgung durch die Nazis in Konzentrationslagern überlebt hatten, wandte sie sich zu und half das „Jüdische Schulwerk Davos“ aufzubauen.

Die Wurzeln ihres pädagogischen Engagements, der Wunsch, Kindern und Jugendlichen zu helfen, sie in ihrer Entwicklung zu fördern und zu unterstützen, steht im Zusammenhang mit ihren eigenen biographischen Erfahrungen. Sie selbst hatte erlebt, daß die Familie auseinanderbrach. Die Ehe der Eltern war von Anfang an nicht gut. Der Vater war Däne und Christ und die Mutter stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Hamburg. Daher wurde Karen jüdisch und ihr älterer Bruder Wolfram christlich erzogen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges ging der Vater vorübergehend nach Dänemark, um seiner Internierung als Ausländer zu entgehen. Da die Mutter sehr krank war und ihre Kinder nicht versorgen konnte, kamen sie in das Kinderheim Herrlingen bei Ulm. Dort blieb Karen fünf Jahre bis zum Tod der Mutter 1924. Da­nach kam die 11-jährige zu Verwandten nach Berlin, besuchte dort das Lyceum und wurde Mitglied im zionistischen Jugendbund Kadimeh. Der Jugendbund war für sie von großer Wichtigkeit, er hatte wohl auch die Funktion einer „Ersatzfamilie“, denn sie ist noch heute stolz darauf, daß sie schon im Alter von 12 Jahren ihre eigene Jugendgruppe erhielt. Da ihre Verwandten in beengten wirtschaftlichen Verhältnissen lebten und auch ihr Vater nicht für ihre Ausbildung aufkam, mußte sie sich nach Schulabschluß ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Sie bildete sich durch den Besuch von Abendkursen der Rackowschen Handelsschule und der jüdischen Haushaltungsschule weiter. Von 1929 bis 1932 besuchte sie die Pestalozzi-Fröbel-Schule und wurde Kindergärtnerin.

Der frühe Verlust der Familie, die Erfahrungen als Heimkind und schließlich als ein von Verwandten angenommenes Kind lassen Karen früh reif und selbständig werden. Nicht die eigenen Eltern haben sich in ihrem Leben als verläßlich erwiesen, sondern die Gruppe im Kinderheim, die Gruppe des zionistischen Jugendbundes und die Freunde. Hilfe und Zuwendung erhielt sie aber auch von den Berliner Verwandten, der Schwester ihrer Mutter und deren Mann, die sie zu ihren eigenen drei Söhnen „als liebes Töchterchen“ annahmen.

Nach dem Abschluß ihrer sozialpädagogischen Ausbildung trat Karen eine Stelle in dem gleichen Herrlinger Kinderheim an, in dem sie selbst als Kind fünf Jahre gelebt hatte.

In Herrlingen gab es drei pädagogische Einrichtungen, in deren Konzeptionen deutlich die Einflüsse der Reformpädagogik und der jüdischen Jugendbewegung erkennbar waren. Es waren das von der Reform­pädagogin Anna Essinger 1926 gegründete Landschulheim (vgl. Feidel-Mertz 1983), das 1921 von Käthe Hamburger gegründete Waldheim für schwererziehbare und illegitime Kinder und das von Claire Weimersheimer bereits 1912 gegründete Kinderheim für schwer erziehbare Kinder, in dem Karen Siemsen als Kind gelebt hatte und von 1932 bis 1934 arbeitete. In der Rückschau beschrieb sie das Kinderheim Herrlingen und ihre Arbeit dort.

Diese Herrlinger Zeit, das war zwar eine sehr schwere, aber interessante Zeit, und zwar war es ein sehr schön gelegenes Kinderheim, direkt im Wald in Herrlingen, ein schönes Haus und unten im Souterrain hatte ich eine Wohnung speziell für die Kinder, die ich versorgte. Ein kleines Zimmer für mich, ein größeres für die Buben und ein anderes großes für die Mädchen. Ich hatte 9 Mädchen im Alter von 12 bis 16 Jahren und 17 Jungen von 11 bis 15 Jahren. Darunter war ein Taubstummer und ein Psychopath. Und auch ein Junge , der sehr schwer Polio hatte, der Thomas aus Südafrika. Er starb später.

Herrlingen war ein ganz kleiner Ort und die Häuser lagen da nach und nach in die Höhe. Das Kinderheim war das letzte. Wir hatten auch einen Garten und eine Terrasse. Es war ein sehr schönes Haus, und ich habe mit meinen Gruppenkindern, den Jungs und den Mädels, teilweise im Garten gearbeitet. Aber vor allem hatten wir auf der anderen Seite vom Haus eine große Spiel- und Liegewiese, und das war sehr wichtig, denn wir hatten auch unter den kleineren Kindern verschiedene, die pflegebedürftig waren.. Es war ja eine Zeit, wo die Kinder ins Kinderheim kamen, weil die Eltern entweder keine Zeit hatten oder nur ein Elternteil da war und die Kinder krank waren. Ich bin natürlich auch mit den kleineren Kindern zusammen gekommen, aber ich hatte keine Verantwortung für sie.

Wir hatten unten einen sehr schönen gemeinsamen Raum, wo gegessen wurde, auch Aufführungen und Spiele gemacht wurden. Ich weiß, ich hatte damals angefangen unten im Ort bei einer Lehrerin Gitarre spielen zu lernen und eine andere Pflegerin hat dann Klavier gespielt, also wir haben versucht, den Kindern in ihrer Einsamkeit oder Verlassenheit von zu Hause schöne Stunden zu machen.

Claire Weimersheimer war ja eine Arztfrau, aber hatte keinerlei Ausbildung und war auch dadurch, daß sie selber drei Kinder hatte, mit sich selbst genügend beschäftigt. Sie war nicht einfach. Ich weiß, sie hatte auch oft Personalwechsel. Aber ich war ja damals schon ziemlich reif und habe mich durchgesetzt und hatte auch den unteren Souterrain –Stock ganz für mich. Da hat sie sich auch gar nicht eingemischt. Also da konnte ich ganz frei mit den Kindern arbeiten. Also, die waren ja bald so alt wie ich, teilweise 15 und 16 Jahre. Wir haben wunderschöne Wanderungen gemacht und zusammen gezeltet.“

In dieser Schilderung werden die Elemente eines an der Reformpädagogik orientierten Konzeptes deutlich: die Erzieherin wohnte im Heim, Theaterspiel und Naturerleben durch Wandern und Zelten spielten eine große Rolle. Hinzu kam eine pädagogische Haltung, in der es nicht um die Disziplinierung schwieriger Jugendlicher ging, sondern darum, „den Kindern in ihrer Einsamkeit und Verlassenheit von zu Hause schöne Stunden zu machen.“ 2

Karen Siemsen mußte 1934 ihre Stelle in Herrlingen aufgeben und ging noch vor ihrem 21. Lebensjahr nach Dänemark, um die „lebensrettende“ dänische Staatsangehörigkeit nicht zu verlieren.

Auswanderung nach Palästina

Innerhalb der zionistischen Jugendbewegung gab es bereits vor 1933 Diskussionen und Bestrebungen, in Palästina einen Staat für Juden zu schaffen. Pläne zur Gruppenauswanderung Jugendlicher nach Palästina hatte Recha Freier bereits vor 1933 ausgearbeitet, aber nunmehr wurden die Pläne unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung, rasch realisiert. Es wurde die „Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendalijah“ gegründet, die in enger Zusammenarbeit mit den Jugendbünden Organisation und Finanzierung für die auswandernden Gruppen übernahm. „Der erste Transport der Jugendlichen verließ Deutschland im Februar 1934. Hunderte solcher Gruppen folgten, stets von einem Jugendführer begleitet, der mit ihnen bereits in einem Vorbereitungslager gelebt hatte. In der neuen Heimat wurden sie von der Kibbuzbewegung aufgenommen und in die Siedlungsarbeit des Landes eingegliedert.“(Schachne, L., 1989, S.29).

Karen Siemsen hat 1936 zwei Monate auf einem westpreußischen Gut verbracht, auf dem Jugendliche landwirtschaftliche Kenntnisse erwarben, um sich auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Im April 1936 fuhr die Gruppe, von Karen Siemsen als Jugendführerin begleitet, von Italien aus auf dem Frachtschiff „Galilea“ nach Palästina in das Kibbuz Ejn Hachoresch. Eine Rückkehr von dort nach Dänemark war ihr nicht möglich, und sie mußte dort bleiben. Über diese besonders schwierige Zeit berichtet sie im folgenden:

Als Mädchen allein sich in den Kibbuz einzuordnen, das war damals sehr schwer. Es waren meistens Ehepaare. Als einzelne Frau, das war gar nicht einfach. Denn ich habe nachts gearbeitet, da mein Bett nur am Tage zur Verfügung stand und nicht nur das, sondern wir hatten sehr viele Wanzen. Wir hatten Eisenbetten und darunter standen Schüsselchen mit Petroleum, damit sie uns nicht auffraßen. Ich war ein sehr empfindlicher Mensch, sah grauenhaft aus, und habe dann auch am Tage nicht mehr schlafen können. Meine Jacke war voller Wanzen. Die hat man dann verbrannt. … Also es waren schwere Zeiten!.

Ich hatte einen sehr schweren Stand als einzelne, die in den Kibbuz kam. Es war ein alter Kibbuz und ich habe teilweise draußen gearbeitet in den Feldern, aber vor allem nachts habe ich die Kinderhäuser versorgt und die Soldaten. Und das war so. Man hatte einen neuen Brunnen gebohrt, es gab ja kein Wasser, es war ja damals alles sehr primitiv, es war in der Nachbarschaft der Araber. Die haben sich angeschlichen und ich mußte im Dunkeln arbeiten. Ich konnte weder im Kinderhaus noch für die Soldaten Licht machen. Alles ging im Dunkeln. Ich mußte sie verpflegen und versorgen, denn sie mußten uns ja immer bewachen. Die hätten uns sonst kaputt gemacht. Und da habe ich mich bei Ratten infiziert und bekam Flecktyphus. Da hat mir dann ein Ehepaar ihr Zimmer zur Verfügung gestellt, weil ich sehr schwer krank war und nicht im Steinhaus bei den Jungs wohnen konnte. Aber man hatte es nicht erkannt. Man dachte, es war Bauchtyphus, den es viel gab, oder Malaria. Das war es nicht! Man kannte Bauchtyphus, und da war dann die Therapie, die Leute aushungern zu lassen, nur Flüssigkeit zu geben. Das konn­ten sie mit mir nicht machen! Es war dann mein Vetter, der Chemiker Adi Müller, der dafür gesorgt hat zusammen mit der Pflegerin aus dem Kibbuz, daß ich ernährt wurde. Sonst hätte ich es ja nicht überlebt. Flecktyphus ist folgendermaßen, man hat ganz niedrige Temperaturen und dann kriegen sie abends bis 400 und das zerstört alles. Man verliert alle Haare am ganzen Körper, Kopf, alles geht weg. Es zerstört die Gehirnnerven.

Ich lag sehr lange in Haifa im Spital. Da war alles arabisch, Personal, Ärzte alles arabisch.“

Für Karen Siemsen als Zionistin müssen die Erfahrungen im Kibbuz desillusionierend gewesen sein: Ihre Lage als alleinstehende junge Frau, die schwere Arbeit unter ständiger Bedrohung durch die Araber und schließlich die lebensgefährliche Erkrankung. Hinzu kam, daß sie als hellhäutige und blonde Europäerin das Klima schlecht vertrug. Sie kehrte nach ihrer Genesung nicht in den Kibbuz zurück, weil sie die schwere körperliche Arbeit nicht mehr durchstehen konnte, sondern trat eine Stelle als Erzieherin in Tel Aviv an.

Während ihrer Rekonvaleszenz in Haifa traf sie Carl Simonsohn wieder, den sie bereits aus Deutschland kannte. Carl, dessen ebenfalls aus Deutschland stammende Verlobte sich von ihm getrennt hatte, verliebte sich in Karen, und er wollte sie heirateten. Karen zögerte zunächst, war sich ihrer Gefühle nicht sicher, aber schließlich willigte sie ein, wobei praktische Erwägungen, daß nämlich das schwere Leben dort gemeinsam besser zu bewältigen sein würde als allein, für sie den Ausschlag gaben. Noch im gleichen Jahr wurden sie religiös getraut.

In Tel Aviv bewohnten Carl und Karen ein kleines Zimmer in einer Drei-Zimmer-Wohnung, die sie mit zwei weiteren Parteien teilten. Im Rahmen der „Berufsumschichtung“3 hatte Carl zuvor in Deutschland eine Schuhmacher-Ausbildung erhalten und eröffnete nun eine Werkstatt.

Für sie als Einwanderer war die Sicherung der Existenz vordringlich und an eine berufliche „Karriere“ war nicht zu denken, daher mußte Karen Siemsen alle sich bietenden Jobs annehmen. In den 10 Jahren ihres Aufenthaltes in Palästina machte Karen Siemsen eine Ausbildung in Home Nursery and First Aid und war zeitweise auch in einem Krankenhaus beschäftigt. Sie arbeitete in einem Restaurant, leitete als Erzieherin einen Kindergarten, kümmerte sich als Privaterzieherin um die Kinder einer Familie und war als Sekretärin u.a. auch für den Schriftsteller Arnold Zweig tätig. Nach dem Ende des Weltkrieges, als die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse noch schwieriger wurden und Karen Siemsen zudem unter dem dortigen Klima litt, wollten Carl und Karen Siemsen das Land sobald als möglich verlassen.

Carl, der seiner politischen Überzeugung nach Kommunist war und für seine illegale Widerstandstätigkeit von den Nazis inhaftiert 1935 war, kam ebenso wie Karen aus der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung. Sie konnten gegenüber dem aus dem KZ befreiten Bruder und Schwager Berthold Simonsohn nur schwer begreiflich machen, warum sie als Zionisten Palästina verlassen wollten. In einem bislang unveröffentlichten Brief vom 1. November 1945 schrieb Berthold Simonsohn: „Ich habe viele Menschen gesprochen …, die drüben leben, daß sie nie wieder woanders leben möchten. Wer wüßte besser als wir, daß wie die überwiegende Mehrheit aller Menschen, gleich welcher Nation und Rasse, auch die meisten Juden, unsympathische Wesen sind. Aber ich habe stets verstanden, mir einen Kreis sympathischer Menschen zu finden …….. Durch die Erfahrung dieser Jahre bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß es nur eine Lösung der Judenfrage gibt, die in der Richtung dessen liegt, was der sozialistische Zionismus fordert. Voraussetzung ist der Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab, aber auf ihn können die Juden eben nicht warten. Nur dürfen sie, was die meisten soz. Zionisten vergessen, dabei nie eine Politik treiben, die sie im Gegensatz zur Herbeiführung seiner bringt. Es scheint mir, daß Ihr nur die negative Seite Palästinas seht, die innerhalb des kap. Systems unvermeidlich ist.“

Der sehr allgemeinen und politischen Argumentation hielt Karen Siemsen ihre Erfahrungen entgegen. In einem Brief, den sie a. 23. Juli 1946 während der Reise nach Europa auf dem dänischen Frachter „Texas“ schrieb, hieß es:

Lieber Bertl, Du mußt wissen, daß das was wir in P. (=Palästina) aufgeben im Grunde genommen gar nichts Fundiertes ist. Verlieren werden wir nichts, und was uns dort noch alles bevorsteht, spricht von einem noch viel schwereren Leben, als wir es bisher schon hatten. Es bleibt nur zu wünschen, daß Carli so bald als irgend möglich gesund von dort heraus kommt.

Die Wirtschaftslage wird immer katastrophaler – die Menschen, der Arbeiter, der im Krieg und durch Kriegsproduktion und das Militär einen normalen Verdienst hatte und endlich einmal die Möglichkeit hatte ohne Sorgen und Not zu leben, sich aber kaum etwas sparen konnte, ist heute zum größten Teil bereits arbeitslos. Wohnungen gab es die ganzen Jahre nicht, so daß sich auch nur die Wenigsten ein richtiges Heim schaffen konnten. Daß die Soldaten so spontan und alle zur selben Zeit entlassen wurden, hat die Lage nur noch verschärft und die Arbeitslosigkeit sehr vergrößert. Die Menschen, die seinerzeit nur in ganz wenigen Fällen aus Überzeugung, sonst aber aus Mangel an Arbeit und Einordnungsschwierigkeiten zum Militär gingen, die sind heute schwer enttäuscht und verbittert, daß sie nun wieder von vorne anfangen müssen. Haben sie doch bestimmt geglaubt, daß wenn sie 4 oder 5 Jahre gedient haben, daß man ihnen dann eine feste Arbeit und zu wohnen geben wird. Während sie beim Militär waren, wurden die Familien sehr schlecht versorgt, sie bekamen eine so lächerliche Summe, daß wo keine Reserven waren, die Frauen die ganzen Jahre auf Arbeit gehen mußten. Doch man hatte den Soldaten viel versprochen – wie das ja so im Kriege üblich ist „der Dank des Vaterlandes ist dir gewiß“. Jedenfalls ist heute die Stimmung sehr gedrückt, die ganze Lage sehr gespannt.“

Aufgrund ihrer dänischen Staatsangehörigkeit hatte Karen Siemsen weniger Schwierigkeiten, die zur Ausreise notwendigen Papiere zu erhalten, wohingegen Carl als Staatenloser mehr bürokratische Hürden überwinden mußte. Also blieb Carl zunächst noch in Palästina zurück und Karen ging zunächst nach Dänemark.

Rückkehr nach Europa

In Dänemark wurde Karen Siemsen von Freunden aufgenommen, die eine Landwirtschaft unter wirtschaftlich sehr schwierigen Bedingungen betrieben. „Um nicht zu sehr die Gastfreundschaft und Hilfe auszunutzen“, arbeitete sie dort „für Kost und Logis“.

Im Herbst 1946 konnte dann auch Carl Palästina verlassen, und er und Karen trafen sich in der Schweiz, weil dort bereits die Geschwister von Carl, Ilse und Berthold und seine Frau Trude4 lebten und auch Arbeit gefunden hatte. Ilse unterrichtete jüdische Kinder, Berthold war Geschäftsführer des jüdischen Sanatoriums Höhwald bei Davos, Trude arbeitete dort als Krankenschwester, und auch Karen und Carl fanden dort ein Betätigungsfeld, Karen als Krankenschwester und Carl half in der Küche. Die Patienten waren lungenkranke Überlebende von Konzentrationslagern, die erst gesunden sollten, ehe sie nach Israel auswanderten. Nach der Schließung des Sanatoriums 1947 arbeitete sie für die jüdische Flüchtlingshilfe und als Sekretärin beim „Jüdischen Schulwerk Davos“.

Immer wieder gab es Schwierigkeiten bei der Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz bis diese 1950 – kurz nach der Geburt ihres Sohnes Alfred56– dann endgültig versagt wurde und die Familie Siemsen die Schweiz verlassen mußten.

Da stellte sich dann die Frage, wo sie künftig leben sollten. Karen hatte die dänische Staatsangehörigkeit und hätte also nach Dänemark gehen können. Da aber Carl kein dänisch sprach, kam dies nicht in Frage. In die USA, wohin die ältere Schwester Carls, eine Überlebende von Theresienstadt, ausgewandert war, konnten sie nicht, weil sie kein Einreisevisum bekamen. Der jüngere Bruder Carls, Dr. Berthold Simonsohn, war seit 1950 in Hamburg bei der jüdischen Gemeinde beschäftigt und bereitete die Wiedergründung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland vor, deren erster geschäftsführender Direktor er dann wurde. So bot es sich an, ebenfalls nach Hamburg zu ziehen, um sich nunmehr zum dritten Male, eine neue Existenz aufzubauen. Carl und Karen Siemsen hatten kaum Geld, denn zu der Zeit hatte Karen für den erlittenen beruflichen und gesundheitlichen Schaden noch keine Wiedergutmachung erhalten. Auch Carl, den die Nazis 1935 wegen seines Widerstandes ins Gefängnis gebracht, dann enteignet und zur Auswanderung gezwungen hatten, stand bei seiner Rückkehr nach Deutschland 1950 mittellos da. Es dauerte mehrere Jahre bis beide die Wiedergutmachung erhielten.

Carl arbeitete in Hamburg bei einer jüdischen Organisation und Karen, die wegen des kleinen Sohnes nicht arbeiten konnte, übernahm Schreibaufträge, die sie zu Hause erledigte. Carl fürchtete nach seiner Rückkehr nach Deutschland trotz des Zusammenbruchs des Nationalsozialismus antisemitische Verfolgung und änderte daher seinen Namen Simonsohn in den skandinavisch klingenden Namen Siemsen. Als die Geschäftsstelle der Zentralwohlfahrtstelle nach Frankfurt a.M. verlegt wurde und sein Bruder dorthin zog, folgten Karen und Carl ihm bald nach. 1953 gründete Carl Siemsen im nahegelegenen Mainz eine Wäscherei. Karen Siemsen litt gesundheitlich unter den Folgen des Flecktyphus und war häufig krank. 1959 erkrankte sie erneut sehr schwer. Sie litt an einer Krebserkrankung des linken Auges, das deshalb entfernt werden mußte. Sie konnte danach keine schwere Arbeit mehr verrichten und Carl, der ohne ihre Hilfe die Arbeit in der Wäscherei nicht bewältigen konnte,gab diese auf.

Kurz darauf haben sie mit ihrem Sohn Deutschland verlassen und sind nach Dänemark gezogen, wo sie in den Jahren zuvor schon häufig Urlaub gemacht hatten.

Der Versuch von Karen und Carl Siemsen, sich in Deutschland eine berufliche Existenz aufzubauen und wieder heimisch zu werden, war damit gescheitert. Karen Siemsen konnte ebenso wenig wie andere aus der Emigration zurückgekehrte Sozialpädagoginnen ihre Erfahrungen aus dem reformpädagogischen Kinderheim und aus der Kibbuz-Erziehung in Palästina in die deutsche Heimerziehung nicht einbringen, was, wie wir rückblickend erkennen, für diese ein großer Verlust war.

Das Schicksal der Familie Siemsen ist kein Einzelfall. Deshalb wird an diesem Beispiel deutlich, daß die westdeutsche Gesellschaft insgesamt sich um die Rückkehrer aus der Emigration nicht gekümmert, und die Politik es versäumt hat, wirksame Integrationshilfen zu geben. So setzte sich die Ausgrenzung der Verfolgten auch in den ersten Jahren der Nachkriegsjahren fort. Viele Biographien von Überlebenden enden mit dem Jahr 1945 und erst in jüngster Zeit erschienen Berichte, die deutlich machen, daß gerade in den ersten Nachkriegsjahren den Rückkehrern nicht nur keine Hilfe zuteil wurde, sondern daß sie auch auf Ablehnung und Unverständnis stießen. Die Aufarbeitung dieser Problematik steht m.E. noch in den Anfängen.

Literaturangaben

Aden-Grossmann, W. (2007): Berthold Simonsohn – Biographie des jüdischen Sozialpädagogen und Juristen, Frankfurt: Campus Burgauer, E.: Zwischen Erinnerung und Verdrängung – Juden in Deutschland nach 1945. Reinbek bei Hamburg 1993

Feidel-Mertz, H (1983).: Schulen im Exil. Die verdrängte Pädagogik nach 1933. Reinbek bei Hamburg 

Grossmann, W. (1992): Berthold Simonsohn. In: Lehmann, M. / Schnorbach, H.: Aufklärung als Lernprozeß. Festschrift für Hildegard Feidel-Mertz. Frankfurt: dipa-Verlag, S. 109-119

Hartmann, Hans (1967): Lexikon der Nobelpreisträger. Frankfurt a. M. – Berlin 

Schachne, Lucie (1989): Erziehung zum geistigen Widerstand. Das jüdische Landschulheim Herrlingen 1933 – 1939. Frankfurt: dipa-Verlag

Simonsohn, Trude(1992): Überleben und aufklären. In: Lehmann, M. und Schnorbach, H.:  Aufklärung als Lernprozeß. Frankfurt a. M: dipa-Verl., S. 244 – 255

Anmerkungen

1 Louisiana ist ein weltberühmtes Museum für moderne Kunst und liegt nördlich von Kopenhagen.

2 Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wirkte sich unmittelbar auf die Herrlinger Einrichtungen aus. Anna Essinger hatte bereits in den ersten Monaten des Hitler-Regimes erkannt, daß „Deutschland nicht länger der Ort ist, an dem Kinder in Ehrlichkeit und Freiheit aufwachsen können“ (Feidel-Merz, 1983, S.72) und ihr Landschulheim nach Südengland verlegt. Am 5. Oktober 1933 eröffnete sie in der Grafschaft Kent „New Herrlingen“.

Die Leitung des weiter bestehenden Landschulheims in Herrlingen übernahm Hugo Rosenthal, der die Schule bis zu ihrer durch die Nazis angeordneten Schließung am 1. April 1939 leitete (Schachne, 1989, S.31). Sowohl das Landschulheim als auch das Kinderheim wurden bereits 1933 gezwungen, die nicht-jüdischen Kinder zu ihren Eltern zurückzuschicken. Als 1939 das Landschulheim geschlossen wurde, emigrierte Claire Weimersheimer mit ihren Kindern nach Palästina.

3 Die Einwanderungsländer forderten eine landwirtschaftliche, handwerkliche oder pädagogisch-praktische Vorbildung von den Einwanderern. Deshalb wurden in Deutschland Kurse auf diesen Gebieten, die sog. „Berufsumschichtung“, zur Vorbereitung der Emigration durch jüdische Organisationen angeboten und organisiert

 Trude Simonsohn, geb. Gutmann, Überlebende von Theresienstadt und Auschwitz (vgl. Simonsohn, Trude: Überleben und aufklären. In: Lehmann, M. und –Schnorbach, H.: Aufklärung als Lernprozeß. Frankfurt a.M., dipa-Verl. 1992, S. 244-255).

4 Trude Simonsohn, geb. Gutmann, Überlebende von Theresienstadt und Auschwitz (vgl. Simonsohn, Trude: Überleben und aufklären. In: Lehmann, M. und –Schnorbach, H.: Aufklärung als Lernprozeß. Frankfurt a.M., dipa-Verl. 1992, S. 244-255).

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6 Er erhielt seinen Namen nach dem Großonkel Alfred Hermann Fried (1864-1921), der 1891 die erste deutschsprachige Friedensgesellschaft gründete, seit 1899 die Zeitschrift die „Friedenswarte“ herausgab und ein zweibändiges „Handbuch der Friedensbewegung“ (Leipzig 1911 und 1913) verfaßte. Für sein friedenspolitisches Engagement erhielt er 1911 den Friedensnobelpreis. (Hartmann, Hans: Lexikon der Nobelpreisträger. Frankfurt a.M. – Berlin 1967)

1 Prof. Dr. jur. Berthold Simonsohn (1912-1978) war Überlebender von Theresienstadt und Auschwitz. 1952 wurde er geschäftsführender Direktor der wiedergegründeten „Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland“, 1963 als Professor für Sozialpädagogik und Jugendrecht an die J.-W.-Goethe-Universität in Frankfurt a.M. berufen.

2 Carl Simonsohn (1907-1986) hat nach seiner Rückkehr aus der Emigration seinen Namen in Siemsen geändert, weil er antisemitische Tendenzen in Deutschland fürchtete.