Wilma Aden-Grossmann: Die Epoche des Nationalsozialismus in der Kinder- und Jugendliteratur

In: Bernhard Nolz, Wolfgang Popp (Hrsg.): Erinnerungsarbeit. Grundlage einer Kultur des Friedens. Münster: LIT Verlag 2000, S. 285-297

Zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur

Unter zeitgeschichtlicher Kinder- und Jugendliteratur (KJL) verstehen wir jene Literatur, deren Geschichten in der jüngeren Vergangenheit, also vor einem konkreten zeitgeschichtlichen Hintergrund spielen oder Zeitgeschichte ausdrücklich thematisieren. Dies kann sich auf verschiedene Phasen und Themen der in unsere Zeit hineinwirkenden Vergangenheit beziehen, jedoch geht es im folgenden um jene KJL, die sich mit der Epoche des Nationalsozialismus und seinen Folgen und Nachwirkungen beschäftigt. Dabei handelt es sich sowohl um fiktionale Literatur als auch um dokumentarische Texte, wie z.B. Tagebücher, Autobiographien und Sachbücher.

Gemeinsam ist den Jugendbuchautoren das Anliegen, mit ihren Büchern zur Aufklärung beizutragen, um einer Wiederholung, einem Wiederaufleben des Nazismus entgegenzuwirken. Die in der KJL beschriebenen Ereignisse müssen – so die Forderung der Literaturwissenschaftlerin Zohar Shavit – nicht tatsächlich so wie geschildert stattgefunden haben, aber sie sollten repräsentativ und typisch für die damalige Zeit sein.

Entwicklungslinien nach 1945

Im folgenden möchte ich die Entwicklung der sich mit diesem Thema beschäftigenden zeitgeschichtlichen KJL nach 1945 skizzieren, wobei deutlich gemacht werden soll, dass es einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlich-politischen Ereignissen einerseits und der literarischen Reaktion und Produktion der Jugendbuchautoren und Verlage gibt, die mit ihren Publikationen hierauf reagierten.

Wenn wir die Entwicklung nach 1945 betrachten, so fällt auf, daß sich in den ersten Jahren kaum ein Jugendbuchautor mit der Problematik des Nationalsozialismus auseinandersetzte. Ganz überwiegend war die KJL der Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1959 apolitisch und folgte damit dem allgemeinen gesellschaftlichen und literarischen Trend, diese Epoche zu verdrängen: Es wurden überwiegend harmlose Geschichten publiziert, in denen eine „heile Welt“ dargestellt wurde. Doderer urteilt über die Jugendliteratur nach 1945: „Der Blick der Literaten, die sich nach 1945 der Jugend zuwandten, war rückwärts gerichtet und verklärend. Das Märchenerzählen verhinderte das Aussprechen bitterer Wahrheiten.“

Abweichend von diesem Trend erschien von 1944-49 Lisa Tetzners 9-bändige Romanfolge „Die Kinder von Haus Nr. 67“, in der sie die unterschiedlichen Schicksale von drei Berliner Jungen und einem Mädchen zwischen 1931 und 1945 beschrieb. In diesen 9 Bänden wurden Themen wie Mitläufertum, Widerstand, Verfolgung, Krieg, Flucht und Emigration aufgegriffen und – ähnlich wie in Kästners „Konferenz der Tiere“ – gründeten die inzwischen zu Jugendlichen herangewachsenen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Bund der Völkerverständigung. Lisa Tetzner, die 1933 ihrem Mann Kurt Held1 ins Schweizer Exil gefolgt war, veröffentlichte ihr Werk zunächst in der Schweiz; erst später wurde es auch in Deutschland aufgelegt.

Nur wenig später, 1950, erschien die erste Ausgabe des „Tagebuch der Anne Frank“, das nicht nur wegen des Schicksals dieses jungen Mädchens, sondern auch wegen seiner literarischen Qualität zu einem „Klassiker“ wurde.

Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der KJL in Deutschland begann aber eigentlich erst in den 60er Jahren, als Hakenkreuzschmierereien auf jüdischen Friedhöfen eine öffentliche Diskussion über Versäumnisse der politischen Bildung auslösten. Für Kinder- und Jugendbuchautoren war dies eine Herausforderung, der sie sich zunehmend stellten. Es erschienen Bücher über die Judenverfolgung, die wir heute zu den „Klassikern“ der zeitgeschichtlichen KJL rechnen wie z.B.:

  • Hans Peter Richter: Damals war es Friedrich (1961)

  • Winfried Bruckner: Die toten Engel (1963)

  • Hans Georg Noack: Die Webers

  • Willi Fährmann: Es geschah im Nachbarhaus

  • Clara Ascher-Pinkhof: Sternkinder (1963, Übersetzung aus dem Niederländischen)

In den 70er Jahren verstärkte sich unter dem Einfluß der neuen sozialen Bewegungen (u.a. die Außerparlamentarische Opposition, die Studentenbewegung, die anti-autoritäre Erziehungsbewegung) insgesamt die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die Vätergeneration wurde kritisch befragt im Hinblick auf ihre Mittäterschaft oder Duldung des NS-Regimes. Dies schlug sich auch in der zeitgeschichtlichen KJL nieder. Wichtige Bücher waren u.a.

  • Judith Kerr: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (1971)

  • Horst Burger: Warum warst du in der Hitlerjugend. Vier Fragen an meinen Vater. (1976)

  • Leonie Ossowski: Stern ohne Himmel (1978)

  • Sigmar Schollak: Das Mädchen aus Harrys Straße (1978 DDR; 1980 BRD)

Anfang der 80er Jahren nahmen die Anzahl Veröffentlichungen und die Vielfalt der Themen zu. Dieser Boom ist auch im Zusammenhang verschiedener Gedenktage zu sehen (50. Jahrestag der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1983 und 50. Jahrestag der „Reichskristallnacht“ am 9. November 1988). Weitere politische Ereignisse wie z.B. der Einzug rechtsradikaler Abgeordneter in Kommunal- und Landesparlamente (erstmals 1981), eine Welle neonazistischer und rechtsradikaler Gewalttaten und die sich ausbreitende Verleugnung des Holocaust machten deutlich, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus eine Auseinandersetzung mit dem aufkeimenden Rechtsradikalismus einschließen muss. Dies bewirkt, dass in den 90er Jahren zu dem anhaltenden Interesse an einer literarisch-politischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus die Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Problemen von Rassismus und Neonazismus hinzutritt. Es erschienen u.a.

  • Ove Borostein: Schwarze Nacht. Neonazis in unserer Stadt. Bindlach: Loewe 1996

  • Isolde Heyne: Yildiz heißt Stern. Würzburg: Arena Verlag ?

  • Marie Hagemann: Schwarzer Wolf, Skin. Stuttgart, Wien: Thienemann Verlag 1993

Thematische Schwerpunkte und Defizite

Betrachten wir im folgenden unter quantitativen Gesichtspunkten die zeitgeschichtliche KLJ, so werden die thematischen Schwerpunkte und Defizite deutlich. Gemessen an der Gesamtproduktion der KJL ist die Anzahl der Bücher, deren Anliegen die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist, sehr gering. Die erste Untersuchung hierzu legte Bernd Otto 19812 vor und gelangte zu dem Ergebnis, dass bis 1980 bei einer Zahl von jährlich etwa 1600 Neuerscheinungen innerhalb von etwa 20 Jahren nur 162 einschlägige Bücher erschienen sind, wobei er ausschließlich die fiktionale KLJ in seine Untersuchung einbezog. Fast die Hälfte aller bis dahin erschienen Bücher widmete sich dem Thema „Flucht und erste Nachkriegszeit“, wohingegen er Defizite bei den Themen Judenverfolgung, Emigration und Widerstand konstatierte.

Im Anschluß an diese Untersuchung hat Günter Lange3 eine Untersuchung durchgeführt mit dem Ziel zu prüfen, ob es von 1980 bis 1998 in den von Otto kritisch angemerkten Defiziten Veränderungen gegeben hat. Lange hat die beeindruckende Zahl von 842 Kinder- und Jugendbüchern analysiert (einschließlich der in der DDR erschienenen Bücher) und dabei sich nicht auf fiktionale Jugendliteratur beschränkt, sondern auch autobiographische Texte und Sachbücher einbezogen, also das ganze Spektrum der für Heranwachsende angebotenen Literatur berücksichtigt.

Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass bis Ende der 90er Jahre, die Zahl der Ersterscheinungen gewachsen ist. Ein sehr deutlicher Rückgang ist von 1997 bis 1999 zu verzeichnen. In diesen drei Jahren ist der prozentuale Anteil der zeitgeschichtlichen KJL zum Nationalsozialismus – gemeint sind die Erstveröffentlichungen – ähnlich gering wie in den ersten Nachkriegsjahren. Hinsichtlich der thematischen Schwerpunkte stellte Lange fest, dass es einige gravierende Unterschiede zu den von Otto ermittelten Themenschwerpunkten gab. Auffallend ist, dass die Themen Flucht und Nachkriegszeit in der neueren KJL eine geringere Rolle spielen, wohingegen den Themen Judenverfolgung und Widerstand mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Neu ist auch die Tendenz den Bogen vom Nationalsozialismus zum Rechtsextremismus und Neonazismus zu schlagen.

Gegenüberstellung ausgewählter Untersuchungsergebnisse von Otto (1981) und Lange (2000)4:

Flucht /Nachkriegszeit

Otto: 48 %

Lange: 24 %

Judenverfolgung

Otto: 9 %

Lange: 23,9 %

Krieg

Otto: 14 %

Lange: 20,7 %

Widerstand

Otto: 8 %

Lange: 20,1 %

Den erheblich größeren Anteil von KJL über den Widerstand erklärt Lange damit, dass er im Gegensatz zu Bernd Otto die KJL der DDR mit einbezogen hat und dass von den 169 Titeln zu diesem Thema 102 in der DDR erschienen sind. „Die antifaschistische Ideologie der DDR fand ihren Niederschlag auch und gerade in der KJL-Produktion zu diesem Thema. Demgegenüber nimmt sich die Zahl von 67 Büchern zum „Widerstand“ in der Bundesrepublik sehr bescheiden aus; lediglich 47 Bücher davon erschienen vor der „Wende“.5 Lange erklärt dieses Phänomen damit, dass in der Bundesrepublik jahrzehntelang der militärische Widerstand zwar als akzeptabel gegolten habe, der kommunistische aber eher totgeschwiegen worden sei.

Wenig Beachtung fand bislang das Thema Verfolgung von Sinti und Roma, und so finden wir weder in der Untersuchung von Otto noch in der von Lange die entsprechende Untersuchungskategorie. Als eine der wenigen hat die Jugendbuchautorin Ursula Wölfel in ihrem bereits 1962 erschienenen lyrischen Roman das Schicksal von Sinti und Roma während des Nationalsozialismus dargestellt. „Lange bevor die Verfolgung der Zigeuner durch die Nationalsozialisten ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit rückte, hat sie in „Mond, Mond, Mond“ die Geschichte eines Verrats, einer langen Amnesie und einer verspäteten Erinnerungsarbeit geschrieben, in der sie ihren Lesern differenzierte Informationen über die Zigeuner, ihr Schicksal im „Dritten Reich“, ihre Denk- und Lebensweise gibt – eines der besten deutschen Bücher dieses Themenbereichs“. Mit diesen Sätzen würdigte die Literaturwissenschaftlerin Ursula Wölfel Roman, der auch für das Fernsehen verfilmt wurde. Unter den jüngeren Autorinnen, die sich des gleichen Themas annahm, ist Anja Tuckermann zu nennen, die 1999 die Lebens- und Überlebensgeschichte von „Muscha“, einem Zigeunerkind in einem Jugendroman verarbeitet.

Zohar Shavit kritisiert, dass der überwiegende Teil der KJL aus der Perspektive der Opfer geschrieben wurde und dass „echte“ Nazis in den Büchern nur am Rande auftauchen. Die Hauptfiguren seien immer Menschen, die aktiv oder passiv gegen Hitler und das System gewesen seien. Der deutsche „main-stream“ der Kinder- und Jugendliteratur betreibe dadurch Schönfärberei und erzeuge Wunschbilder der deutschen Geschichte. Das Grauen der Judenvernichtung in den KZ sei hingegen so gut wie nie Thema dieser Literatur. Im Höchstfalle ende die Darstellungen bei der Deportation der Juden.

So berechtigt diese Anforderungen auch sind, so schwierig scheint deren Umsetzung, denn einige Versuche, Nazis in den Mittelpunkt zu stellen gibt es durchaus, aber sie hinterlassen beim Leser zwiespältige Gefühle, denn der Autor muss es ja bei seiner Darstellung berücksichtigen, dass eine positive Identifikation mit dem Protagonisten nicht erfolgen soll. Ein solches Beispiel ist das Buch über die Jugend von Adolf Hitler von der renommierten Jugendbuchautorin Gudrun Pausewang. Über ihr Buch „Adi – Jugend eines Diktators“ schrieb sie in ihrem Nachwort, dass sich die Historiker überwiegend mit dem Erwachsenen befasst hätten, und als ihr der Satz begegnete „Den Führer Hitler kennt nur, wer den jungen Hitler kennt“, fasste sie den Entschluss, über seine Jugend zu schreiben. Sie schildert Adi, so nannten seine Verwandten Adolf Hitler, von seinem 16. bis zu seinem 19. Lebensjahr, sein Versagen in der Schule, seine Schwärmerei für Richard Wagner, seinen Egozentrismus und seine Eitelkeit. „Ich dachte mich in dieses Leben hinein und ergänzte mit meiner Fantasie nur, was mir die historischen Tatsachen vorgaben. Dabei geriet ich immer mehr ins Staunen……, dass sich die Mehrheit eines ganzen Volkes diesen Menschen zum Führer wählte, sich mit seinen Programmen identifizierte und zuließ, dass er es in Schuld und Verderben führte und fast ganz Europa, ja großen Teilen der Welt Unheil brachte“

Bücher für Kinder im Vor- und Grundschulalter

In jüngster Zeit kann man beobachten, dass die Zahl jener Bücher, die für jüngere Kinder geschrieben wurden, zugenommen hat. In diesen Erzählungen sind die Protagonisten in der Regel Kinder und aus ihrer Perspektive und aus ihrem Erleben wird die NS-Zeit dargestellt. Dies erleichtert die Identifikation des jungen Lesers mit den „Helden“ der Geschichte. Strittig ist dennoch, ob jüngere Kinder mit dem Thema Nationalsozialismus konfrontiert werden sollten und ob sie unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten eine historische Perspektive verstehen und verarbeiten können. Dr. Judith Kestenberg, emeritierte Professorin für Psychiatrie an der Universität New York, ist die Gründerin einer internationalen Forschungsgruppe, die sich unter psychoanalytischen Gesichtspunkten mit den Auswirkungen des Holocaust auf die zweite Generation befasste. Unter Einbeziehung der Erkenntnisse aus diesem Projekt und ihrer Erfahrungen in einer psychoanalytischen Beratungsstelle entwickelte sie ihr Kinderbuch „„Als Eure Großeltern jung waren – Mit Kindern über den Holocaust reden“ (1993) für Kinder ab drei Jahre. In ihrem Nachwort erläuterte sie ihre Intentionen: „Wenn wir wirklich Kriege verhindern wollen, wenn wir vermeiden wollen, fremde Menschen zu verachten und anzugreifen, dann müssen wir den Kindern die Wahrheit sagen – so früh wie möglich. Insbesondere kleine Kinder brauchen die Aufklärung dringender als die größeren, da sie gerade in einer Phase sind, ein Gewissen zu entwickeln. Ich hatte bereits ein ähnliches Buch für amerikanische Kleinkinder geschrieben. Es war noch dringlicher, deutschen Kindern Gelegenheit zu geben, die Frage von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit zu besprechen. Da ich schon lange die Wirkung des Nationalsozialismus auf Kinder untersucht hatte, wußte ich, dass das, was man einem Kleinkind beibringt, eine gute Basis für seine moralische Entwicklung ist.“ Eine Ausnahme bildet hier das Buch von Judith Kestenberg, denn es ist ein Sachbilderbuch für Kinder im vorschulischen Alter. Es gibt also eine durchgehende Geschichte, die erzählt wird, sonder es erläutert die historischen Ereignisse während der Herrschaft des Nationalsozialismus mit einfachen Worten: die Ausgrenzung, Sie beginnt mit den einfachen Worten: „Deutschland war ein schönes Land“ bis Hitler die Macht ergriff. Sie berichtet über die Verfolgung und Vernichtung von Juden, den Widerstand vieler Menschen, die Emigration von Juden und politisch Verfolgten, die Zerstörungen im Krieg. Sie stellt dar, wie die Allierten Deutschland befreien und der Nationalsozialismus besiegt wurde. Sie geht auf Scham- und Schuldgefühle der Deutschen ein und in einem Ausblick werden die Kinder ermutigt, sich für die Freundschaft mit allen Menschen und für den Frieden einzusetzen. Mit einfachen Sätzen werden die Ereignisse geschildert, wobei auch immer die Gefühlsebene angesprochen wird. „Viele Deutsche halfen den Juden, aber es waren zu wenige “Die Illustrationen von Koorland sind eindrucksvolle Kohlezeichnungen

Margaret Klare z.B. erzählt in ihrem Buch mit autobiografischem Hintergrund „Heute Nacht ist viel passiert“ (1993), wie ein kleines Mädchen die Nazi-Zeit und den zweiten Weltkrieg mit wachen Augen erlebte. Wir erfahren dabei, wie ein Kind Bomben, Hunger und Leid mitfühlend wahrnimmt. Die Autorin erzählt einzelne Episoden und Impressionen, wie z.B. die „Nacht im Luftschutzkeller“ und schildert die Angst, die Kinder und Erwachsene dabei spürten. Besonders hervorzuheben ist die mit „Hadamar“ betitelte Geschichte. Die Autorin beschreibt, wie ihre Protagonistin Zeugin der Deportation von Kindern wurde, die in einem geschlossenen Wagen durch Hadamar gefahren wurden. Sie hörte die Schreie der Kinder, wußte nicht, was vor sich ging und, da niemand ihr den Vorfall erklärte, schrie sie ebenfalls. Sehr eindrucksvoll wird das „Wegsehen“ der Einwohner von Hadamar in dieser kurzen Erzählung dargestellt. Für dieses Buch erhielt Ursula Wölfel den Peter-Härtling-Preis für Kinderliteratur und in der Begründung der Jury hieß es: „Es sind bewegend, genaue Geschichten aus einer Zeit, die unvergessen bleiben muss.“

Das Thema Freundschaft zwischen einem jüdischen und einem nicht-jüdischen Kind steht im Mittelpunkt von Elisabeth Reuters Buch „Judith und Lisa“., „Heute Nacht ist viel passiert“ von Margaret Klare (1993), „Kriegskinder“ von Text und Illustrationen Michael Forman (1989), „Das Kind im Koffer“ und „Rosa Weiß“ von Roberto Innocenti (1986). Die Protagonisten dieser Bücher sind selbst Kinder und wie an den bildlichen Darstellungen zu erkennen, sind sie zumeist Kinder im Grundschulalter.

Ein weiteres Thema stellen die Erfahrungen von Kindern während des Krieges dar. Sie sind für einen jüngeren Leserkreis geschrieben, für Kinder im Grundschulalter wie z.B. mit ihren komischen Seiten in der Geschichte von „Splittertauschen“, in der Kinder nicht wir unter Kindern vielfach üblich Glanzbilder, wir pflegten Oblaten zu sagen, miteinander tauschten, sondern Granatsplitter. Gleich zwei Bücher bearbeiten das Thema Freundschaft zwischen zwei Mädchen, von denen die ein Jüdin ist. Das eine ist von Elisabeth Reuter und heißt „Rosa und Lisa“, die sowohl den Text verfaßte als auch die Bilder zeichnete. Auch hier beeindrucken jene Bücher mit autobiographischem Hintergrund am meisten. Nur eine relativ kleine Zahl von Jugendbüchern stellt die Erfahrungen von Jungen und Mädchen in Hitler-Jugend und dem BDM (Bund deutscher Mädel) dar, die durch die nationalsozialistische Erziehung beeinflußt und geprägt wurden.

Bei der Literatur über den Nationalsozialismus ist die Grenze zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur fließend. Insbesondere bei autobiographischen Texten und Romanen mit autobiographischem Hintergrund ist eine eindeutige Zuordnung oft nicht möglich, und die Erfahrung im Umgang mit den Texten zeigt, dass eine Reihe von Büchern, die eigentlich für Erwachsene geschrieben wurden, für Jugendliche geeignet sein können.

Nun konfrontiert uns die Jugendliteratur über den Nationalsozialismus, insbesondere über den Holocaust, vor allem mit den Opfern, mit denen wir uns als Leserinnen und Leser leicht identifizieren können. Es sind auch vorwiegend die Verfolgten und die Opfer, die sich durch ihr Schreiben anderen mitteilen. Dabei sind meist Kinder oder Jugendliche die Protagonisten der Geschichte, und diese wird aus ihrer Perspektive erzählt. Dies erleichtert es dem jugendlichen Leser, sich mit der Person und ihrem Schicksal zu. Problematischer ist die Darstellung der nationalsozialistischen Täter, deren Verhalten uns nicht nur entsetzt, sondern das zu verstehen kaum möglich ist identifizieren. Hier kommt es darauf an, diese in den Jugendbüchern so darzustellen, dass Jugendliche sich von diesen Personen abgrenzen, sich eben nicht mit ihnen identifizieren. Bei diesen Büchern ist es durchaus vorstellbar, dass sie – ein entsprechendes neonazistisches Milieu vorausgesetzt – Identifikationen mit den Nazi-Verbrechern bewirken. Vielleicht ist es dieser Problematik geschuldet, dass Jugendbuchautoren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Nationalsozialisten nur als Randfiguren darstellen, oder dass sie von ihnen kaum als Personen wahrgenommen werden.

Anders verhält es sich mit jenen Berichten, in denen Autorinnen und Autoren über ihre Kindheit und Jugend während des Nationalsozialismus oder ihre Zugehörigkeit zur Hitler-Jugend berichten. Hier werden Anpassung und Unterordnung an vorgegebene Strukturen und an ein System geschildert, dem sich die Protagonisten nicht zu entziehen vermochten. Es werden die Verführbarkeit von Jugendlichen und massenpsychologische Prozesse beschrieben. Die Botschaft dieser Literatur ist die der Warnung vor blindem Gehorsam und Anpassungsbereitschaft.

Die historische Forschung hat uns viele Informationen über die Herrschaft des Nationalsozialismus und die erbarmungslose Verfolgung von Juden, Sinti und politisch Andersdenkenden gegeben. Wenn wir dennoch nach autobiographischen Berichten, nach Erzählungen und Romanen mit autobiographischem Hintergrund greifen, so bewegt uns weniger die Suche nach Faktenwissen und Informationen als vielmehr das Bedürfnis zu erfahren, wie die Erfahrungen und Fakten einzuordnen und zu bewerten sind. Deshalb suchen wir in der Literatur die „Wahrheit“, wie Ruth Klüger meint. „Wir lesen nur teilweise, um Fakten zu erfahren, eher um zu klären, wie wir mit den Fakten umgehen wollen, wie wir sie in unseren geistigen Haushalt einordnen oder falls das nicht geht, wie wir unser geistiges Mobiliar umstellen für etwas, was sich nicht nur als psychopathologische Ausnahme, sondern als immerwährende Möglichkeit erwiesen hat, nämlich den Massenmord. …. Die Holocaust-Literatur ist im Schnittpunkt zwischen dem einmaligen und dem wiederholbaren Megaverbrechen angesiedelt. Sie mag Gedicht, Fiktion, Drama, Berichterstattung und was es sonst noch gibt, sein. Auch ob sie „schön“ oder gräßlich ist, ist Nebensache, solange sie uns hilft, die „Wahrheit“ zu verstehen, nämlich wer wir wirklich sind.“i Sie meint damit, dass die literarische und ästhetische Beurteilung der Holocaust-Literatur in den Hintergrund zu treten haben, wohingegen die Authentizität und Wahrhaftigkeit von größter Bedeutung sind. Sie gibt in diesem Zitat dem Suchen nach „Wahrheit“ eine überraschende Wendung: nicht die Suche nach der historischen Wahrheit über den Holocaust sei der Antrieb, sich mit der Literatur darüber auseinanderzusetzen, sondern die Suche nach uns selbst. Wenn es also im wesentlichen darum geht, die Fakten einzuordnen und einen Standpunkt zum Nationalsozialismus zu entwickeln, dann kommt dem Kontext, also dem sozialen Umfeld und der Pädagogik, in dem Jugendliche diese Bücher lesen, große Bedeutung zu. Deshalb wird immer wieder betont, dass man diese Bücher mit Kindern und Jugendlichen gemeinsam lesen und über deren Inhalte diskutieren sollte. Voraussetzung hierfür ist es, dass wir eine dem Lesen insgesamt förderliche Kultur entwickeln.

Sekundärliteratur

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 Günter Lange: Zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur. In: Lange, Günter (Hrsg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur, Band 1. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler, 2000, S. 462-494

 Ruth Klüger: Was ist wahr? Kann man „schöne Literatur“ über den Holocaust schreiben? In: DIE ZEIT, Nr. 38, 12.9.1997

Cloer, Ernst (Hrsg.): Das Dritte Reich im Jugendbuch. Fünfzig Jugendbuchanalysen und ein theoretischer Bezugsrahmen. Weinheim und Basel 1983

 Christadler, Marieluise / Otto, Bernd: Jugendbücher zwischenNationalismus und Neonazismus. In: Tribüne 1980, H. 76, S. 106-114

 Weber, Bernd: Aufklärung im Jugendbuch. Zur Darstellung des deutschen Faschismus in neuerer Jugendliteratur. In: Neue Sammlung 20(1980) S. 22-44

 Toll, Claudia-Maria: zit. nach Steinlein, Rüdiger: Gert Hoffmanns Erzählung Veilchenfeld (1986) und der Nationalsozialismus im fiktionalen Jugendbuch. In: Dahrendorf / Shavit, 1988

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 Hopster, Norbert: Umgang mit der Literatur über den Nationalsozialismus im Deutschunterricht. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien. 46. Jg., Heft 3/1994

 Shavit, Zohar: Die Darstellung des Nationalsozialismus und des Holocaust in der deutschen und jüdischen Kinder- und Jugendliteratur. In Dahrendorf /Shavit a.a.O. S. 11-42

 Dahrendorf, Malte: Die Darstellung des Holocaust in der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur. In Dahrendorf / Shavit a,a,O. S. 67-89

 Sannes-Müller, Inge: Vergangenheit, die nicht vergehen soll. In: Dahrendorf / Shavit a.a.O. S. 43-66

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