Leseprobe: Berthold Simonsohn Biographie des jüdischen Sozialpädagogen und Juristen (1912-1978)

Leseprobe: Berthold Simonsohn
Biographie des jüdischen Sozialpädagogen und Juristen (1912-1978). Frankfurt, New York: Campus Verlag, 2. korr. Aufl. 2008, 420 S., 32,00€

Den jüdischen Juristen und Sozialpädagogen Berthold Simonsohn haben noch heute – knapp dreißig Jahre nach seinem Tod – viele Menschen als eine Persönlichkeit in Erinnerung, die sie nachhaltig beeindruckt hat. Auch mir ist die Begegnung mit ihm unvergessen. Ich habe ihn 1967 kennen gelernt und war von 1968 bis 1974 seine Assistentin an der Universität, also zur Zeit der Studentenbewegung und dem Ausbau der Universitäten. Ich habe ihn in dieser Zeit als einen hochschulpolitisch engagierten und hervorragenden akademischen Lehrer erlebt, der meine wissenschaftliche und persönliche Entwicklung förderte und prägte.

In seinen Reden und Schriften, wie auch durch sein Verhalten, brachte er zum Ausdruck, dass er als Jude der Schicksalsgemeinschaft der deutschen Juden angehörte, und dass er als Sozialist für Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und Demokratie eintrat. Er hat mit der Wiedergründung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und durch sein gesellschaftspolitisches Engagement aus heutiger Sicht einen außerordentlich wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass nach dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland wieder jüdisches Gemeinde- und Kulturleben entstanden sind. Er hat Brücken zwischen Israel und Deutschland gebaut, und dies zu einer Zeit, als es noch keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Staaten gab.

Angesichts der gegenwärtigen Forderungen nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts, die nach Aufsehen erregenden brutalen Straftaten durch Jugendliche insbesondere von konservativen Politikern erhoben werden, ist ein Rückblick auf Simonsohns Analysen der Jugendkriminalität von aktueller Bedeutung, da wir hier Parallelen zur heutigen Zeit entdecken können. Simonsohn zeigte den Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung sowie den historischen Ereignissen und dem Anstieg der Jugendkriminalität auf. Er wies die Nutzlosigkeit und Schädlichkeit der Einweisung von delinquenten Jugendlichen in Jugendstrafanstalten nach und trat den auch damals erhobenen Forderungen nach einer Verschärfung der Jugendstrafe entschieden entgegen. Er forderte als Prävention den Ausbau der Erziehungs- und Beratungsmaßnahmen und Resozialisierungsmaßnahmen für delinquente Jugendliche mit dem Fernziel der weitgehenden Abschaffung der Jugendgefängnisse. Mit dieser Biographie soll ein Mann gewürdigt werden, der aus heutiger Sicht außerordentlich wichtige Beiträge zu den hier genannten Fragen geleistet hat.

Berthold Simonsohn wurde noch zur Kaiserzeit geboren und erlebte als Heranwachsender die turbulente Zeit der ersten deutschen Demokratie, die Weimarer Republik. Als Hitler die Macht übernommen hatte, war Simonsohn knapp 21 Jahre alt, ein sehr begabter junger Mann und ein herausragender Student mit vielseitigen Interessen. Er wurde als Sozialist und Jude in eine gesellschaftliche Randposition gedrängt, schon bald verfolgt und Ende 1933 zum ersten Mal inhaftiert. Dennoch hatte er in dieser, wie auch in allen späteren Situationen, die Kraft zum Handeln, war nicht nur Opfer, sondern setzte sich zur Wehr und engagierte sich im Widerstand der Sozialistischen Arbeiterpartei. Unter existenzieller Bedrohung schrieb er als 22-Jähriger seine Dissertation und übernahm schon bald danach als Bezirksfürsorger für Nordwestdeutschland Verantwortung für Verfolgte: Er blieb in Deutschland, um zu helfen, bis er schließlich selbst 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. Aber auch im Ghetto Theresienstadt war er politisch im jüdischen Jugendverband, dem „Hechaluz“, tätig, arbeitete in dem illegalen Bildungswesen und schließlich als stellvertretender Leiter der Jugendfürsorge.

Am 19. Oktober 1944 wurde er in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und nach wenigen Tagen nach Dachau und Kaufering. Er gehörte zu der kleinen Zahl deutscher Juden, die diese Deportationen überlebten.

Die ersten Nachkriegsjahre verbrachte er in der Schweiz. Als Harry Goldstein, der nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes wieder zum Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Hamburg gewählt worden war, ihn bat, die Stelle des Rechtsdezernenten zu übernehmen, um die meist in Armut und Not lebenden Juden zu beraten, kehrte er 1950 nach Deutschland zurück.

Eine weitaus größere Aufgabe wurde ihm ein Jahr später übertragen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte beschlossen, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland wieder zu gründen und Berthold Simonsohn als geschäftsführenden Direktor mit dieser Aufgabe zu betrauen. Ausschlaggebend für diese Entscheidung waren Simonsohns Organisationserfahrungen in Verbindung mit seinen soliden juristischen Kenntnissen. Die wichtigste Aufgabe der ersten Jahre war die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus. Simonsohn setzte sich gemeinsam mit dem Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Hendrik van Dam, für die Verabschiedung des Bundesentschädigungsgesetzes ein, wobei er darauf drängte, dass bei der „Wiedergutmachung“ nicht nur die Vermögensschäden ersetzt, sondern auch die gesundheitlichen Schäden, wozu er auch die psychosomatischen Erkrankungen zählte, als verfolgungsbedingt anerkannt werden müssten.

Die über viele Jahre hinweg von ihm redaktionell betreute „Wiedergutmachungsbeilage“ der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland war für Juden bei der Beantragung von Wiedergutmachungsleistungen eine unentbehrliche Hilfe, weil Simonsohn in dieser Beilage Gerichtsurteile und medizinische Gutachten veröffentlichte. Auch in Hunderten von Einzelfällen stand er den Ratsuchenden zur Seite. Unter seiner Leitung entwickelte sich die neue Zentralwohlfahrtsstelle im ersten Jahrzehnt seit ihrer Wiedergründung von dem „Ein-Mann-Betrieb“ zu einem ausgebauten Wohlfahrtsverband, der Anerkennung fand durch die Aufnahme in die Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege. Damit gehörte die „Zentralwohlfahrtsstelle“ wieder zu den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege.

Simonsohns von Jugend an gehegter Wunsch, als Wissenschaftler und Hochschullehrer zu arbeiten, erfüllte sich, als er 1962 auf eine Professur für Sozialpädagogik und Jugendrecht an die Hochschule für Erziehung, die der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main angegliedert war, berufen wurde. Durch seinen psychoanalytischen und gesellschaftskritischen Ansatz, mit dem er Sozialisationsverläufe von Kindern und Jugendlichen mit deviantem Verhalten analysierte, gab er dem Fach Sozialpädagogik an der Frankfurter Universität ein besonderes Profil. Er befasste sich insbesondere mit den Problemen der Jugenddelinquenz und verfolgte dabei das weitreichende Ziel, die Jugendgefängnisse abzuschaffen. An deren Stelle sollten Resozialisierungsmaßnahmen und andere Hilfsangebote treten. „Erziehen statt strafen“, das war sein Motto. Deshalb sollte das Jugendrecht in das Jugendhilferecht integriert werden. Mit diesen Vorschlägen, die er in der Kommission der Arbeiterwohlfahrt zur Jugendstrafrechtsreform entwickelte, war er – wie er selbst wusste – seiner Zeit weit voraus.

Seine umfassenden praktischen Erfahrungen in der sozialen Arbeit während der Zeit der Verfolgung und nach Kriegsende bildeten das Fundament, auf dem Simonsohn seinen theoretischen sozialpädagogischen Ansatz entwickelte. Er erkannte zudem, dass in Deutschland – während der Zeit des nationalsozialistischen Regimes von den internationalen Entwicklungen in der sozialen Arbeit abgeschnitten – ein geistiger Stillstand eingetreten war. Nach Simonsohns Auffassung sollte die Ausbildung von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern auf Universitäten erfolgen, weil nur so die soziale Arbeit in Deutschland wieder internationales Niveau zu erreichen sei.

Simonsohn engagierte sich in besonderer Weise für die Juden in Palästina und später für Israel. Durch ehrenamtliche Arbeit in der Gesellschaft des Bundes der Freunde der Hebräischen Universität, deren stellvertretender Vorsitzender er war, in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und durch die Organisation von Gruppenreisen nach Israel, die er bereits Anfang der sechziger Jahre unternahm, bahnte er die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel an. Darüber hinaus hat Berthold Simonsohn sich stets für eine arabisch-jüdische Verständigung engagiert, für eine Föderation aller Völker im Nahen Osten und für den Frieden in dieser Region. Davon zeugen seine Vorträge schon in den dreißiger Jahren und seine Veröffentlichungen und Aktivitäten in verschiedenen Organisationen nach seiner Rückkehr nach Deutschland.

Die jahrelange Verfolgung und die Lebensbedingungen im Ghetto Theresienstadt und den Konzentrationslagern waren für seine Gesundheit nicht folgenlos geblieben. Zu den Migräneanfällen, an denen er bereits in Theresienstadt litt, kam später das Asthma hinzu. Stationäre Behandlungen und der Versuch, durch Kuren sein Leiden zu heilen, verliefen ergebnislos. Im Wintersemester 1974/75 erkrankte er so schwer, dass er sich für das ganze restliche Semester beurlauben lassen musste, war aber in den darauf folgenden Semestern bis zu seiner Emeritierung 1977 wieder arbeitsfähig und plante, eine „Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland“ zu schreiben. Dieses Vorhaben konnte er nicht mehr realisieren, denn er starb – ohne vorherige akute Erkrankung – am 8. Januar 1978 an Herzversagen.

Für die vorliegende Biographie wurden aus dem umfangreichen Nachlass von Berthold Simonsohn, der sich im Bundesarchiv Koblenz befindet seine Aufzeichnungen, Briefe und Manuskripte herangezogen und zitiert, wobei die verwendete Rechtschreibung und Zeichensetzung beibehalten wurde. Simonsohns Veröffentlichungen sind meist in Fachzeitschriften erschienen und damit heute schwer zugänglich. Deshalb verbindet sich mit der Darstellung und Analyse seines wissenschaftlichen Werkes die Hoffnung, dass seine Schriften rezipiert werden und seine innovativen Ansätze in den Diskurs der Sozialpädagogik wieder Eingang finden.

Buchcover Berthold Simonsohn
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